Wenn Löwenherzen trauern

Meist werden sie sehr schnell erwachsen: Jugendliche, die einen nahestehenden Menschen verlieren, wollen weiterhin Leistungen bringen und Angehörige stützen. Ihnen hilft die prozessorientierte Trauerbegleitung des Vereins „traurig-mutig-stark“ unter anderem mit regelmäßigen Gruppentreffen.

„Ich höre dich noch lachen und ich seh‘ dich noch am Fensterplatz. Die Lücke, die sich nie mehr schließt, sie hat die Form von dir.“ Es sind Texte wie dieser aus dem Gedicht „Löwenherz“ der 1992 geborenen Sängerin und Poetry-Slamerin Julia Engelmann, die trauernden Jugendlichen wichtig sind. „Musikstücke, Gedichte oder kreative Aktionen helfen den jungen Menschen ihre Gefühle beim Verlust eines nahestehenden Menschen auszudrücken“, sagt Annette Wagner, pädagogische Leiterin des Vereins „traurig-mutig-stark“ in Witten im Ruhrgebiet. Das Zentrum für Kinder- und Jugendtrauerbegleitung wurde 1998 ins Leben gerufen und bietet jungen Menschen eine Begleitung beim Verarbeiten eines Verlustes an.

Mitten im Entwicklungsprozess – und dann die Trauer

„Trauernde Kinder springen in ihre Gefühle hinein und wieder hinaus“, erklärt Leiterin Annette Wagner. Die meisten Jugendlichen reagierten anders: „Sie werden schnell erwachsen, sie möchten in der Schule weiterhin Leistung bringen und wollen, dass ihr Leben wie bisher verläuft.“ Die Diakonin und Seelsorgerin kennt 18-Jährige, die die Beerdigung eines Elternteils organisierten oder jüngere Geschwister versorgen: „Viele Jugendliche halten ihre Trauer zurück, um ihre ebenfalls trauernden Angehörige zu stützen und ihnen eine starke Schulter zu bieten.“

Diesen jungen Menschen im Alter zwischen 12 und 27 Jahren bietet das Trauerzentrum unter ihrer Leitung regelmäßige Treffen in einer Jugendtrauergruppe an. Diese Treffen finden jeweils am zweiten Sonntag im Monat von 11 bis 16 Uhr statt. „Heranwachsende sind gerade dabei, ihren Platz im Leben zu finden, sie stecken mitten im Entwicklungsprozess, und Trauer ist ein völlig neues, unerwartetes Gefühl, mit dem sie oft überfordert sind“, sagt Annette Wagner. In der Gruppe können sie die verschiedenen Gefühle in der Trauer wie Ärger, Angst, Wut, Einsamkeit, Leere und Enttäuschung zulassen und zeigen. Denn sie erfahren, dass sie nicht alleine sind und auch andere einen Menschen durch den Tod verloren haben.

Feste Abläufe und Rituale bestimmen die Treffen. Wie geht es mir? Was beschäftigt mich gerade, und für wen möchte ich heute eine Kerze anzünden? Mit diesen Fragen beginnt der gemeinsame Tag, zu dem das Tee trinken, das gemeinschaftliche Kochen und Essen dazugehören. Und dann können mal Teebeutel genäht, befüllt und mit einem Zettel voll Wünsche versehen werden. Mal werden auf einen Porzellanteller wütende Gedanken niedergeschrieben und mit dem Teller auf den Boden geschmissen, dann wiederum entstehen Gemälde, die Sehnsucht und Einsamkeit ausdrücken.

Mehr als ein „Basteln mit trauernden jungen Menschen“

Dabei gehe es jedoch um mehr, als um ein „Basteln mit trauernden jungen Menschen“, betont Annette Wagner. Und Suggestivfragen wie „Jetzt fühlst du dich bestimmt einsam?“, möchte sie ihren Teilnehmenden auf keinen Fall zumuten. Viel mehr erarbeitete sie ein prozessorientiertes Konzept, das für jedes Treffen ein bestimmtes Thema vorgibt. Die Beerdigung und wie sie erlebt wurde, das Verabschieden oder die Erinnerung sind einige dieser Schwerpunkte.

Auf die insgesamt zehn Themenbereiche können sich die Jugendlichen vorbereiten. Dafür dient auch eine eigens eingerichtete Gruppe beim Nachrichtendienst „WhatsApp“. Dieses Mal war es das Motto „Hoffnungsvoll und Seelenschwer“, das angekündigt und mit dem über die Sprache von Trauernden nachgedacht wurde. Dabei fanden manche Jugendliche einige Facebook-Seiten, die Gedanken über den Verlust posten, andere entdeckten für sich das handschriftliche Schreiben eines Tagebuchs.

„Bei jedem Treffen finden die Themen ihren Abschluss“, erklärt Trauerbegleiterin Annette Wagner. Und so klärten die Jugendlichen unter anderem ihre Kraftquellen, die ihnen helfen, mit dem Verlust zu leben. Ein junger Mann erzählte dabei vom Fußballtrainer, der ihm Mut zuspricht, eine junge Frau vom Freund, der sich mit ihr auf dem Friedhof auf eine Decke legt, um die Sterne zu betrachten.

Wenn die Mutter das Enkelkind nie kennenlernt

Damit auf ihre Bedürfnisse individuell eingegangen werden kann, sollen nicht mehr als zehn Jugendliche an den Treffen teilnehmen. Zur Gruppe sollen sie sich selbst bei einem Erstgespräch anmelden. „Wer nur kommen will, weil andere ihn schicken, ist noch nicht soweit, sich mit seiner Trauer auseinanderzusetzen“, weiß Annette Wagner. Denn manche jungen Menschen funktionierten nach dem gravierenden Verlust erst einmal weiter, ihren Schmerz spürten sie dann Monate oder Jahre später. „Dann sind es solche Momente, wenn ihnen klar wird, dass der Papa die gelungene Abi-Klausur nicht miterleben oder die Mutter das zukünftige Enkelkind nicht kennenlernen wird“, schildert Annette Wagner.

Zur Professionalität ihres Angebots gehört auch das Erkennen von unverarbeiteter Trauer, die krank machen kann. „Drogenmissbrauch, Essstörungen oder Suizidgefahr müssen von Fachleuten behandelt werden, an die wir weiterverweisen“, erklärt Wagner, die auch im Vorstand des Bundesverbands Trauerbegleitung e.V. mitarbeitet. Jugendlichen, die ihre Trauer nicht in einer Gruppe besprechen wollen, bietet das Trauerzentrum „traurig-mutig-stark“ die Einzelbegleitung an, es gibt außerdem die Möglichkeit, sich mit einem Mitarbeitenden schriftlich auszutauschen.

Trauer höre nicht auf, sagt Annette Wagner. Doch irgendwann könne der Mensch lernen, mit ihr zu leben – an diesem Punkt werden die Jugendlichen aus der Begleitung entlassen. Und dann finden sie sich vielleicht wieder in dem Gedicht von Julia Engelmann: „Ein Stern aber flimmert in der Ferne und verblasst, aber ich werd‘ ihn erinnern. Du weißt du hast für immer einen Platz in meinem Löwenherz.“

31. Oktober 2018