„Pfarrer haben oft keine Zeit für trauernde Angehörige“
evangelisch.de sprach mit Elisabeth Brockmann (AGUS)
evangelisch.de: Frau Brockmann, der Tod von Robert Enke bewegt das ganze Land. Seine Frau geht offen mit dem Geschehen um, trat am Mittwoch vor die Presse – ist das schon Teil der Bewältigung dessen, was da passiert ist?
Brockmann: Als Bewältigung würde ich das noch nicht sehen. Es ist der Anfang eines Umgangs mit der Todesart. Wir finden es äußerst bewundernswert, wie Frau Enke an die Öffentlichkeit geht, weil sie sicherlich in einem schweren Schockzustand ist. Durch diese öffentlichen Aussagen hat sie sich Möglichkeiten erschlossen, Unterstützung zu bekommen. Wenn jemand die Todesursache verheimlicht oder gar nicht dazu Stellung nimmt, geht er das Risiko ein, dass die Spekulationen überhandnehmen, und kann mit niemandem darüber reden.
evangelisch.de: Robert Enke hat ja seine Krankheit auch schon verheimlicht. Kann es für seine Frau befreiend sein, jetzt darüber zu sprechen?
Brockmann: Das glaube ich nicht. Denn für welchen Preis passiert das? Das Leben mit der Depression und ihre Verheimlichung haben unheimlich viel Kraft gefordert – von Robert Enke und von seiner Frau.
evangelisch.de: Welche Gefühle bewegen einen Angehörigen in einer solchen Situation, was steht im Vordergrund – Trauer, Wut, Selbstvorwürfe?
Verlustschmerz ist überwältigend
Brockmann: In der Situation kurz nach dem Tod – ich würde das auf die nächsten Wochen bis zu einem Vierteljahr ausdehnen – steht der Schock im Vordergrund. Fassungslosigkeit, Chaos der Gefühle. Es überwiegt nicht ein einziges Gefühl, sondern es wechselt sich ab. Hinzu kommt die Trauer um den Gestorbenen. Der Verlustschmerz ist überwältigend. Aber bei dieser Todesart kommen noch Fragen dazu: Warum habe ich ihn nicht stärker gedrängt, sich behandeln zu lassen? Warum hat er uns das angetan, hat unsere Liebe nicht ausgereicht? Bin ich, sind wir es nicht wert?
evangelisch.de: Was würden Sie Frau Enke jetzt raten?
Brockmann: Es gibt verschiedene Unterstützungsmöglichkeiten, insgesamt aber noch zu wenige. Ich würde in so einer Situation auf jeden Fall dazu raten, dass man sich um sich selbst kümmern muss: In einer Schocksituation muss man schauen, dass man regelmäßig schläft, ausreichend isst. Und dass Leute um einen sind, mit denen man sich versteht, die Verständnis haben. Dass man Leute fernhält, die schaden oder zusätzliche Energie kosten – in diesem Fall auch Journalisten. Für die Trauerbewältigung gibt es verschiedene Wege. Für Suizidtrauer hat jeder einen anderen Weg. Selbsthilfe und der Austausch mit anderen Betroffenen ist ein wichtiges Hilfsangebot. Das hat eine ganz andere Qualität als das Gespräch mit Menschen, die nicht selbst betroffen sind, oder mit Therapeuten. Oft ist es so, dass verschiedene Unterstützungsmöglichkeiten parallel angenommen werden. Viele sind in Selbsthilfegruppen und parallel dazu in therapeutischer Behandlung.
evangelisch.de: Wie sieht es mit der kirchlichen Unterstützung aus?
Brockmann: Sie lässt in den vergangenen Jahren leider etwas zu wünschen übrig. Die Betreuung Angehöriger sollte nicht nach der Beerdigung aufhören. Betroffene wünschen sich, mehr aufgefangen zu werden und mehr Zuspruch zu erhalten – das scheitert aber häufig an Zeitproblemen. Pfarrer haben keine Zeit, vier Wochen nach dem Todestag zur Familie zu gehen oder am Geburtstag von Verstorbenen anzurufen. Einfach zu sagen: Ich habe heute mal an Euch gedacht.
evangelisch.de: Wie hat sich das Thema Selbsttötung gesellschaftlich verändert?
Brockmann: Die Tabuisierung lockert sich. Vor 20 Jahren hat kaum jemand offen darüber gesprochen. Heute jedoch gibt es – unabhängig vom Tod von Herrn Enke – immer wieder Zeitungsberichte dazu, Betroffene äußern sich sehr differenziert und offen zu ihrer Situation. Eine langsame Veränderung kommt in Gang. Aber es ist natürlich eine Todesart, die alle, die damit zu tun haben, zutiefst berührt und konfrontiert.
evangelisch.de: Wie reagieren Betroffene auf den Fall Enke?
Brockmann: Wir haben Anrufe von Betroffenen, die wieder sehr mit dem eigenen Schmerz in Berührung kommen. Es wühlt einfach auf, so viel darüber zu hören. Vor allem wühlt viele auf, dass in den Medien die Begriffe „Selbstmord“ oder „Freitod“ verwendet werden.
Begriffe „Selbstmord“ und „Freitod“ vermeiden
evangelisch.de: Warum ist diese Wortwahl fragwürdig?
Brockmann: „Selbstmord“ rückt die Tat in ein kriminelles Umfeld. Ein Mord ist eine verabscheuungswürdige Straftat gegen einen anderen Menschen. Uns sagen Betroffene hingegen: Mein Sohn konnte doch nicht mehr leben – er war kein Mörder. Und „Freitod“ hat so etwas Philosophisches, beinhaltet aber, dass man sich frei dazu entscheiden könne, sich das Leben zu nehmen. Die Menschen sind jedoch meistens in einer tiefen Verzweiflung.
evangelisch.de: Sie wünschen sich mehr Sensibilität von den Medien?
Brockmann: Ja, und dass die Medien auch mehr präventiv denken. Uns stören diese genauen Beschreibungen, wo sich Herr Enke das Leben genommen hat – da fehlte nur noch der Anfahrtsplan. Das hat das hohe Risiko, Folgesuizide in Kauf zu nehmen. Dessen sind sich Journalisten nicht bewusst, oder sie ignorieren es.
evangelisch.de: Welche Auswirkungen hat es auf die Angehörigen von Robert Enke, dass der Fall so stark in der Öffentlichkeit steht?
Brockmann: Das ist schwer zu sagen. Es kann es leichter machen, dass man nichts verheimlichen muss. Schwerer ist es, weil man nicht so trauern kann, wie man möchte. Man muss immer damit rechnen, dass man gesehen wird, wenn man ans Grab geht. Ob man nun weint oder sich vielleicht auch einmal zu lachen traut – das alles wird kommentiert von Leuten, die oft gar keine Ahnung haben.
evangelisch.de: Was wünschen Sie Teresa Enke?
Brockmann: Dass diese Welle des Mitfühlens und des Verständnisses, das sie jetzt erlebt, sie über einen längeren Zeitraum begleiten wird. Dass sie verständnisvolle und geduldige Freunde um sich hat.
Internet: www.agus-selbsthilfe.de
Von Bernd Buchner, erschienen auf evangelisch.de.
12. November 2009