Gesellschaft muss Scheitern akzeptieren lernen
Oder warum besitzt der bedeutende Begriff „sensibel“ den Charakter eines Schimpfwortes? Darüber sprachen wir mit dem Sportpfarrer Volker Steinbrecher von der evangelischen Akademie in Bad Boll.
Phänomen Fußball: Volkssport, wahrscheinlich die wichtigste Freizeitbeschäftigung der Deutschen. Aktiv wie passiv und auch wer nicht kickt, kann trotzdem mitreden. Kein Thema. Darum ist Fußball zumindest aus männlicher Sicht so ziemlich in aller Munde und das Geschehen rund um die Profis omnipräsent. „Ist es zum Beispiel wirklich von Interesse, dass nach einem Fußballspiel im Teletext oder Internet sofort alle Blessuren eines Profi-Spielers aufgezählt werden?“ fragt Sportpfarrer Volker Steinbrecher. „Der mediale Druck auf die Spieler ist immens, dazu addiert sich der Druck von den Fans im Stadion, von der Trainerbank, vom Management. Viele Spieler sind damit überfordert.“
Die meisten Karrieren von jungen Sportlern verlaufen nach einem ähnlichen Muster: Sie trainieren und lernen in abgeschotteten Internaten, es wird ausgewählt und wieder ausgewählt. Ein Gedanke steht im Mittelpunkt des Lebens: Hoffentlich bleibe ich gesund und bringe die Leistung, dass der Trainer mich aufstellt. Disziplin genießt dabei einen hohen Stellenwert. Sagt aber später nichts darüber aus, wie lebenstüchtig jemand wird. Es gibt einen Trainingsplan und einen Spielplan und am Ende zählt, was der Trainer sagt. Weniger, was der Spieler denkt. Klare Hierarchien.
Psychische Probleme sind kein Thema
Die Wirtschaft funktioniert nach einem ähnlichen Schema. Sogenannte Kaderschmieden auf der einen Seite und Bonuszahlungen auf der anderen. In diesem Sinne gehorcht der Profisport rein ökonomischen Prinzipien: Wer nicht optimal funktioniert, was mit potentiellen Verlusten verbunden wäre, wird aussortiert. Im Interesse der angestrebten Vereinsziele, im Interesse der Fans, die schließlich den ganzen Spaß mitfinanzieren durch Dauerkarten, Bezahl-Fernsehen und Einschaltquoten. Dabei kommt es in der Saison jeden Samstag und Sonntag zu einem traurigen Paradoxon: Viele Versager im privaten oder beruflichen Leben nutzen die Tribüne zur Projektionsfläche ihres persönlichen Frustes und beschimpfen lauthals Spieler. Vorzugsweise den Gegner. In ihrer Hilflosigkeit aber auch die eigenen.
Ganz großer Sport. Einige Zuschauer reagieren ihre Komplexe ab und manche Spieler bauen ihre auf oder aus. Wovor offensichtlich auch keine Millionen-Gage schützt. Vielleicht wirkt sie sogar eher kontraproduktiv. Und macht darum im Sport das Zugeben einer psychischen Erkrankung so schwierig. Weil es um den Beruf geht und psychische Probleme in der Gesellschaft nach wie vor kein öffentliches Thema sind. Die Depression als traditionelles Tabu. Eines von vielen im Profisport, sagt Andreas Kuhnt, der Pressesprecher von Hannover 96. Das waren seine einleitenden Worte, bevor Dr. Valentin Markser und Teresa Enke der Öffentlichkeit die Krankheit von Robert Enke schilderten.
Weiter sagte Kuhnt, dass die Zeit wohl noch nicht reif sei für den Bruch weiterer Tabus. Dabei steht unausgesprochen das Thema der Homosexualität im Fußball ganz weit oben auf der Tabuliste. DFB-Boss Theo Zwanziger ging vergangenes Jahr selbst in die Offensive und erklärte das Thema zur Chefsache, sicherte seine Unterstützung zu, bot pauschal seine Freundschaft an, schickte den Fußballbund auf den Christopher Street Day in Köln, setzte Signale. „Es wäre wirklich der von allen gefürchtete Worst Case, würde sich in Deutschland ein Fußballer umbringen, weil er das Verleugnen seiner sexuellen Präferenz nicht mehr ertragen würde,“ sagt Steinbrecher. In England kam es im vergangenen Jahr zur Tragödie, dort nahm sich ein schwuler Spieler der Premier League das Leben.
St. Pauli – der andere Verein
Im kommenden März lädt Steinbrecher in die Akademie nach Bad Boll zur Tagung, um gerade über solche Tabus zu sprechen und nach Lösungen zu suchen. Mit von der Partie sein wird der FC St. Pauli. „Weil der Verein vom Kiez seinen 100. Geburtstag feiert und vieles anders macht als andere Bundesligavereine, zum Beispiel mit seinem Präsidenten Corny Littmann einen bekennenden schwulen Vereinsboss an seiner Spitze hat“, sagt Steinbrecher. Der in der Öffentlichkeit auch noch nie mit dem falsch verstandenen Attribut „sensibel“ als Synonym für Schwäche tituliert wurde. Wobei Fußballer ja eigentlich über ein hohes Maß an Sensibilität verfügen sollten, im Umgang mit dem Ball sowieso. Und auch die Fans reagieren wie Kinder auf die kleinsten Gesten.
„Eigentlich kann man beim Sporttreiben einen guten Umgang mit dem Siegen, aber auch mit dem Verlieren lernen. Christlicher Glaube kann dies unterstützen, wenn Menschen verstehen, dass ihr Leben viel mehr bedeutet als die Summe ihrer Leistungen, dass Brüche und Abbrüche zu ihrem Leben einfach dazu gehören. Wenn wir in diesem Sinne eine Kultur des Scheiterns erlernen und etablieren, hoffe ich, dass mit Stigmatisierungen im Fußball bald Schluss sein wird“, so Steinbrecher. Die Zeit wäre wohl langsam reif für Veränderungen. Der einsame Entschluss von Robert Enke könnte eine neue Ära einläuten.
Von Stefan Becker, zuerst erschienen auf evangelisch.de
15. November 2009