Heimrich Schütz

Musikalische Exequien

Bei den Musikalischen Exequien von Schütz handelt es sich in mancherlei Hinsicht um ein außergewöhnliches Werk. Der Titel ist ableitbar vom lateinischen „exsequiae“ (vgl. exsequi, hinausgeleiten) und meint das Hinausgehen zum letzten Gang. Schütz schreibt damit das erste „Deutsche Requiem“ in der protestantischen Kirchenmusik nach Worten der Heiligen Schrift und Chorälen der lutherischen Tradition.

Als Hofkapellmeister in Dresden komponierte Schütz diese Musik im Auftrag des Grafen Heinrich von Reuß (1572-1636) aus Gera, dessen Begräbnis am 4. Februar 1636 stattfand. Dieser hatte die einzelnen Bibelverse und Choralstrophen selbst ausgewählt und einzelne Sprüche daraus noch zu Lebzeiten in den Sarg gravieren lassen. Die genuin Schützsche Leistung im Blick auf das Ganze der Komposition war, aus den zahlreichen Einzelversen eine geschlossene und doch abwechslungsreiche musikalische und (!) theologische Einheit zu gestalten. Dabei hat der Komponist mit großem Geschick Choralverse und weitere Bibelsprüche hinzugefügt. Ein wesentliches Merkmal der Komposition ist das Alternieren von „modernen“ ein- bis dreistimmigen Concerti im Stile der aus der italienischen Oper eingeführten „Monodie“ und eher traditionellen, choralgebundenen Chorsätzen, die Schütz von einer Capella (d.h. einem einfach oder mehrfach besetzten Chor) ausgeführt haben will.
Das Werk atmet trotz der Todes- und Ewigkeitsthematik eine große Frische, die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges und der zahlreichen Hexenverbrennungen sowie die persönlichen Verluste treten angesichts der Heilsgewissheit des rechtfertigenden Glaubens in den Hintergrund. (Immerhin hatte Schütz innerhalb weniger Jahre seine junge Frau, den einzigen Bruder und seine beiden kleinen Töchter verloren!)

Die Exequien sind dreiteilig, dabei liegt das Hauptgewicht auf dem ersten Teil, der im Gegensatz zu den doppelchörigen Teilen II und III durch den beschriebenen Wechsel von Concerti und Capellsätzen seine Form bekommt. Innerhalb der Trauerfeier wurden wohl No. 1-7 und No. 8-27 der Exequien am Stück musiziert. Der erste Abschnitt entspricht dem Kyrie der Messe, der zweite lässt sich als eine Art Gloria, ein Lobgesang im Angesicht des Todes, verstehen. So erklärt sich jedenfalls der Untertitel des ersten Teils als „Konzert in Form einer teutschen Begräbnis-Missa“. Insgesamt hat Teil I aber ohne Zweifel auch Bekenntnis- und Verkündigungscharakter, so dass man ohne Übertreibung von einer musikalischen Predigt sprechen kann, die in sechs Schritten skizziert werden soll.

Zu Teil I: „Konzert in Form einer teutschen Begräbnis-Missa“

  1. „Kyrie eleison“ (No. 1-7)
    Schütz hat den drei solistisch musizierten Bibelversen, die Gott als Schöpfer und Herrn über Leben und Tod (vgl. Hiob 1,21), Christus als den Erlöser und das Lamm Gottes (vgl. Phil 1,21; Joh 1,29b) und das Vertrauen auf die Geborgenheit in Gott (Röm 14,8) bekennen, ein dreifaches Kyrie hinzugefügt, das die Zuversicht der jeweils vorangegangenen Stücke in die Bitte um das Erbarmen des Dreieinigen münden lässt: Die Personen der Dreieinigkeit werden darin nacheinander angerufen (3; 5; 7). Damit bekommt der erste Abschnitt des ersten Teils ein trinitarisches Gepräge, das der Reihenfolge in der Messe „Kyrie eleison, Christe eleison, Kyrie eleison“ entspricht.
  2. „Also hat Gott die Welt geliebet“ (8-15)
    Der folgende Abschnitt trägt als Motto die „evangelische“ Mitte der ganzen Schrift: „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingebornen Sohn gab…“ Hier nehmen nun die reformatorischen bzw. „orthodoxen“ Choräle eine hermeneutische Schlüsselstellung ein. Die in Joh 3,16 beschriebene Sendung des Sohnes vom Vater zum Heil der Welt wird im Lied Luthers „Nun freut euch, lieben Christen g’mein“ in einem innergöttlichen Dialog inszeniert und gleichzeitig kommentiert. Die beiden göttlichen Personen befinden sich im Zwiegespräch über das Schicksal der Menschheit und die notwendige Rettungstat des Sohnes in Menschwerdung und Kreuzigung.
    Die folgenden Stücke eignen sich das eben entfaltete Evangelium persönlich an, indem sie das Leiden Christi auf uns beziehen („machet uns rein von aller Sünde“; „Durch ihn ist uns vergeben“). Die Musik macht dies durch den homophonen Satz („Gemeindechoral“) sinnenfällig. Das ein für allemal in Christus erworbene Heil im Glauben ergriffen, gibt die gewisse Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod („im Himmel soll’n wir haben, o Gott, wie große Gaben“).
  3. „Der Heilge Geist im Glauben lehrt uns darauf vertrauen“(16-17)
    Nun folgt ein starker Wechsel zu kammermusikalischer Virtuosität. Die konzertierenden Stimmen (Sopran und Baß) begeben sich in aufsteigenden Skalen gleichsam auf die Suche nach der himmlischen Heimat. Dieser Bewegung werden zwei neue fallende Motive entgegengesetzt „von dannen wir auch warten“ bzw. „welcher unsern nichtigen Leib verklären wird“, was sagen soll: Die Wiederkunft Christi und unsere leibliche Verklärung sind ein „Geschenk von oben“. Der folgende Choral stellt uns die Anfechtungen und Nöte des „irdischen Jammertals“ vor Augen, das innere Zerrissenheit und Unfrieden in sich birgt. Doch auf diese dunkle Aussage folgt eine leuchtende Antithese: „Wenn eure Sünde gleich blutrot wäre, soll sie doch schneeweiß werden…“. Der anschließende Choral komprimiert „Auslegung“ und „Aneignung“: durch Verkündigung, Taufe und Mahl kommt das von Christus erworbene Heil äußerlich zu uns. Der Heilige Geist erschließt uns Sinn und Wahrheit der Erlösung, im Glauben lehrt er uns auf die Zusage des göttlichen Wortes zu vertrauen. Was im vorigen Abschnitt als feststehende Heilstatsache (im Rückblick auf Kreuz und Auferstehung) gesagt wurde (zweiter Glaubensartikel), wird hier in Gegenwart und Zukunft hineingesprochen. Dies ist die Mitte des dritten Glaubensartikels.
  4. „Der Gerechten Seelen sind in Gottes Hand“ (18-23)
    In diesem Abschnitt geht es um die alle Generationen und Religionen bedrängende Frage nach dem Ort der Toten bzw. was mit den Verstorbenen geschieht. Der weisheitliche Bibeltext gibt eine eindeutige Antwort: Der Gerechten Seelen sind in Gottes Hand, nicht in einem „Vakuum des Nichts“, auch nicht einfach verschwunden. Sie sind im besten Sinne „aufgehoben“ in Gottes Hand bis zur Auferweckung am Jüngsten Tag. Die anschließenden Stücke nehmen die Texte aus Teil II und III bereits vorweg (s.u.) und münden in das resignative „Ach wie elend ist diese Zeit“ von J. Gigas, das als Kommentar zu Ps 90,10 (Unser Leben währet siebenzig Jahr) verstanden werden kann. Das Duett der beiden Bässe lebt von sog. „suspirationes“ (Seufzer), die das Stöhnen des Menschen angesichts von Mühe und Arbeit illustrieren.
  5. Ich weiß, dass mein Erlöser lebt (24-26)
    Während der vorangegangene Abschnitt gleichsam auf den Zustand zwischen Tod und Auferweckung, blickte, kommt nun das Kernstück christlicher Ewigkeitshoffnung zur Sprache, die Auferstehung des Fleisches, die in der Auferstehung Jesu Christi ihren Grund hat. Mühseligkeit und Sterblichkeit des irdischen Lebens (vgl. 16) werden unverblümt angesprochen. Dem wird das freudige Bekenntnis der Auferstehungshoffnung als Antithese gegenübergestellt: „Ich weiß, daß mein Erlöser lebt“. Hier ist die zeitliche und theologische Mitte des ganzen Stückes, dessen musikalischer Reiz in seiner metrischen Vielschichtigkeit, d.h. im Alternieren von schnellen und gedehnten (hemiolischen) Dreiertakten besteht. Die Auferstehungshoffnung arbeitet Schütz im abschließenden Chorsatz durch den Wechsel von Ober- und Unterchor heraus, ersterer steht für die „Auffahrt“ Christi und das ewige Leben, letzterer für die vergängliche Welt. Am Ende erklingt die Gewißheit der Christusgemeinschaft („denn wo du bist da komm ich hin“), dazu werden beide Chöre zusammengeführt.
  6. Er sprach zu mir: „Halt dich an mich!“ (No. 26f)
    Am Ende des ersten Teils steht zunächst die Bitte des angefochtenen Menschen um den Segen Gottes. Die flehenden Worte des Jakob an den mit ihm zu nächtlicher Stunde kämpfenden Gott aus 1. Mose 32 inszeniert Schütz durch aufsteigende und fallenden Sequenzen, d.h. durch immer dreifach sich steigernden oder abfallenden Vortrag auf den Text „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“. Der eindringlichen Bitte folgt die Zusage: „Halt dich an mich“, womit Luthers Rechtfertigungslied (vgl. b) wieder aufgegriffen wird. Kern und Stern der abschließenden Choralstrophe ist das Versprechen des Mensch gewordenen und gekreuzigten Christus „Ich geb‘ mich selber ganz für dich, da will ich für dich ringen“, womit das Kampfmotiv (vgl. Jakob) mit dem Stellvertretungsgedanken verknüpft ist.

Zu Teil II und III

Die beiden doppelchörigen Motetten SWV 280 und 281 nehmen Texte des ersten Teils (19-21) auf. Die Worte aus Ps 73 (Teil II) markieren das „Dennoch des Glaubens“: Wenn mir gleich Leib und Seele verschmacht‘, so bist du doch, Gott, meines Herzens Trost und mein Teil. Besonders reizvoll ist, wie Schütz den kurzen Text durch immer wieder andere Betonungen ausleuchtet (z.B. „nur dich“ auf dem Spitzenton; „so bist du doch Gott“ mit einer Synkope auf dem „du“, die eine trotzig-tröstliche Widerständigkeit ausdrückt u.a.). Schön ist der Kontrast des im hohen Satz liegenden „Himmels“ zur tief gesetzten Erde.
Der letzte Teil ist in mancher Hinsicht der aparteste Satz. Er verbindet das Nunc dimittis des alten Simeon (Lk 2,29-32), vorgetragen vom fünfst. Capellchor, mit Versen aus der Johannesapokalypse und der Weisheit Salomos, die Schütz selbst hinzufügte und von einem Soloterzett in hoher Lage gesungen haben will. Offenbar stehen die drei Stimmen für die Seele des Verstorbenen (Bariton), die von zwei Engeln (Soprane) gen Himmel getragen wird. Schütz schreibt selbst im Vorwort, er habe „die Freude der abgeleibten Sehligen Seelen im Himmel/ in Gesellschaft der himmlischen Geister und heiligen Engel [in] etwas einführen und andeuten wollen“. Durch die räumliche Entfernung des Terzetts im Kirchenraum soll der Eindruck des „Entschwebens“ der Seele in Abrahams Schoß erzeugt werden.

Jochen Arnold

Teil I

Konzert in Form einer teutschen Begräbnis-Missa (SWV 279)

  1. Intonatio: Nacket bin ich von Mutterleibe kommen,
  2. Soli: Nacket werde ich wiederum dahinfahren. Der Herr hat´s gegeben, der Herr hat´s genommen, der Name des Herren sei gelobet! (Hiob 1,21)
  3. Capella: Herr Gott, Vater im Himmel, erbarm dich, erbarm dich über uns! (Kyrie eleison)
  4. Soli: Christus ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn.
    Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt (Phil 1,21; Joh 1,29b)
  5. Capella: Jesu Christe, Gottes Sohn, erbarm dich über uns! (Christe eleison)
  6. Soli: Leben wir, so leben wir dem Herren; sterben wir, so sterben wir dem Herren.
    Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herren. (Römer 14,8)
  7. Capella: Herr Gott, Heiliger Geist, erbarm dich über uns! (Kyrie eleison)
  8. Intonatio: Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingebornen Sohn gab,
  9. Soli: auf dass alle, die an ihn gläuben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. (Joh 3,16)
  10. Capella:
    Er sprach zu seinem lieben Sohn:/ Die Zeit ist hie zu erbarmen;
    fahr hin, meins Herzens werte Kron/ und sei das Heil der Armen
    und hilf ihn´ aus der Sünden Not,/ erwürg für sie den bittern Tod
    und laß sie mit dir leben. (Martin Luther, 1523)
  11. Soli:Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, machet uns rein von allen Sünden. (1.Joh 1,7b)
  12. Capella:
    Durch ihn ist uns vergeben/ die Sünd, geschenkt das Leben.
    Im Himmel solln wir haben, o Gott, wie große Gaben! (Ludwig Helmbold, 1575)
  13. Soli: Unser Wandel ist im Himmel, von dannen wir auch warten des Heilandes Jesu Christi, des Herren, welcher unsern nichtigen Leib verklären wird, daß er ähnlich werde seinem verklärten Leibe. (Phil 3,20-21a)
  14. Capella:
    Es ist allhier ein Jammertal,/ Angst, Not und Trübsal überall;
    des Bleibens ist ein kleine Zeit, / voller Mühseligkeit,
    und wer´s bedenkt, ist immer im Streit. (Johann Leon, 1582/98)
  15. Soli: Wenn eure Sünde gleich blutrot wäre, soll sie doch schneeweiß werden, wenn sie gleich ist wie Rosinfarb, soll sie doch wie Wolle werden. (Jes 1,18)
  16. Capella:
    Sein Wort, sein Tauf, sein Nachtmahl/ dient wider allen Unfall;
    der Heilge Geist im Glauben/ lehrt uns darauf vertrauen. (Ludwig Helmbold, 1575)
  17. Solo: Gehe hin, mein Volk, in eine Kammer und schleuß die Tür nach dir zu!
    Verbirge dich einen kleinen Augenblick, bis der Zorn vorübergehe. (Jesaja 26,20)
  18. Soli:
    Der Gerechten Seelen sind in Gottes Hand, und keine Qual rühret sie an. Für den Unverständigen werden sie angesehen, als stürben sie, und ihr Abschied wird für eine Pein gerechnet, und ihr Hinfahren für Verderben; aber sie sind in Frieden.
  19. Solo: (Weisheit Salomos 3,1-3)
    Herr, wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erden.
  20. Soli: Wenn mir gleich Leib und Seele verschmacht´,
    so bist du, Gott, allzeit meines Herzens Trost und mein Teil. (Ps 73,25-26)
  21. Capella: Er ist das Heil und selig Licht für die Heiden, zu erleuchten, die dich kennen nicht, und zu weiden. Er ist seines Volks Israel der Preis, Ehr, Freud und Wonne.
    (Martin Luther, 1524)
  22. Soli: Unser Leben währet siebenzig Jahr, und wenn´s hoch kömmt, so sind´s achtzig Jahr, und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Müh´ und Arbeit gewesen. (Ps 90,10a)
  23. Capella:
    Ach, wie elend ist unser Zeit/ allhier auf dieser Erden,
    gar bald der Mensch darniederleit, /wir müssen alle sterben,
    allhier in diesem Jammertal,/ ist Müh´ und Arbeit überall,
    auch wenn dir´s wohl gelinget. (Johannes Gigas, 1566)
  24. Solo:
    Ich weiß, daß mein Erlöser lebt, und er wird mich hernach aus der Erden auferwecken, und werde darnach mit dieser meiner Haut umgeben werden, und werde in meinem Fleisch Gott sehen. (Hiob 19,25-26)
  25. Capella:
    Weil du vom Tod erstanden bist, / werd ich im Grab nicht bleiben,
    mein höchster Trost dein Auffahrt ist, / Todsfurcht kannst du vertreiben,
    denn wo du bist, da komm ich hin, / daß ich stets bei dir leb und bin,
    drum fahr ich hin mit Freuden. (Nikolaus Herman, 1560)
  26. Soli: Herr, ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. (1.Mose 32,27b)
  27. Capella:
    Er sprach zu mir: Halt dich an mich, / es soll dir itzt gelingen;
    ich geb mich selber ganz für dich, /da will ich für dich ringen.
    Den Tod verschlingt das Leben mein, /mein Unschuld trägt die Sünde dein;
    da bist du selig worden. (Martin Luther, 1523)

Teil II: Herr, wenn ich nur Dich habe
Motette für zwei vierstimmige Chöre SWV 280
Herr, wenn ich nur Dich habe,
so frage ich nichts nach Himmel und Erden.
Wenn mir gleich Leib und Seele verschmacht‘,
so bist Du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil.
(Psalm 73,25-26)

Teil III: Herr, nun lässest Du deinen Diener in Frieden fahren, SWV 281,
Motette für fünfst. Capellchor und dreist. Fernchor
Herr, nun lässest Du Deinen Diener
in Frieden fahren, wie Du gesagt hast;
denn meine Augen haben Deinen Heiland gesehen,
welchen Du bereitet hast vor allen Völkern,
ein Licht zu erleuchten die Heiden,
zum Preis Deines Volks Israel.
(Lukas 2,29-32)