In aller Stille

Fast drei Wochen ist es jetzt her, dass wir meinen Mann begraben mussten. Unsere Kinder sind längst wieder abgereist, weil Beruf und Alltag auf sie warten. Ich sitze hier – allein mit meinen Erinnerungen, mit meiner Trauer und mit meiner Einsamkeit.
Die Beerdigung hat in aller Stille stattgefunden, nur die Kinder und ich und natürlich der Pfarrer. Ich wollte keine neugierigen oder mitleidigen Blicke, keine höflich gemurmelten Beileidsbekundungen,  keine kitschigen Karten, auf denen  „Herzliche Anteilnahme“ schon vorgedruckt war und man nur noch seinen Namen einzusetzen brauchte.
Doch jetzt sehne ich mich nach der Nähe eines Menschen, nach jemandem, mit dem ich reden kann, der einfach da ist und mich so aushält, wie ich bin. Aber niemand kommt, keiner ruft an. Bin ich als Witwe nichts mehr wert? Hat man Angst vor meinen Tränen? Will man mit einer Trauerden möglichst nichts zu tun haben? Warum ziehen sich selbst die engsten Freunde zurück und lassen mich allein?
Plötzlich werde ich durch das Klingeln des Telefons aus meinen Grübeleien aufgeschreckt. Es ist Jonas, der beste Freund meines Mannes. Kaum, dass wir uns begrüßt haben, überschütte ich ihn mit Vorwürfen und beklage mich bitterlich darüber, dass sich niemand um mich kümmert.
„Stopp!“ unterbricht mich Jonas. „Wenn hier jemand wütend sein darf, dann bin ich das! Dein Mann war mein bester Freud. Seit unserer Kindergartenzeit waren wir unzertrennlich. Wie gern hätte ich ihn  noch einmal gesehen und  mich wenigstens auf seiner Beerdigung von ihm verabschiedet, aber du hast mir dazu einfach; keine Chance gelassen. Haben nicht auch Freunde, Nachbarn und Arbeitskollegen das Recht, Abschied zu nehmen? Peter gehört dir schließlich nicht allein!“
Ich schwieg erschrocken. Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht. Jonas hatte ja  Recht!

„Und dass Freunde und Nachbarn jetzt nicht kommen – darüber brauchst du dich nicht zu wundern!“ fuhr Jonas fort. „Was sollen sie denn machen?! „Von Beileidsbesuchen bitte ich, Abstand zu nehmen“ hast du unter die Todesanzeige gesetzt. Ich kann  nachempfinden,  dass du anfangs keinen Besuch ertragen konntest, aber ich kann auch gut verstehen, dass dir deine Nachbarn ausweichen. Sie sind total verunsichert und wissen nicht, wie sie dir jetzt begegnen sollen: Gar nichts sagen, oder nach so langer Zeit und gegen deinen ausdrücklichen Wunsch trotzdem kondolieren? – beides geht eigentlich nicht.“

Und was soll ich jetzt machen?“ fragte ich ziemlich ratlos und bekümmert.
„Ich glaube, jetzt musst du den ersten Schritt tun“ antwortete Jonas. „Geh auf deine Freunde und Nachbarn zu und erkläre ihnen, warum du anfangs keinen Besuch wolltest, dich jetzt aber über ihr Kommen freust.“
Als ich immer noch zögerte, fügte er nachdenklich hinzu: „Du wolltest doch ein Erinnerungsbuch für Peter gestalten mit Bildern von euren Reisen, mit Geschichten über besondere Erlebnisse und mit wichtigen Erinnerungstücken. Bitte alle Freunde und Bekannten um Fotos von Peter. Dann haben sie einen Anlass, um dich zu besuchen oder dir zu schreiben. Lade sie ein, sie sollen Fotos mitzubringen und erzählen, welche besonderen Erlebnisse sie mit Peter verbinden. Dies ist vielleicht auch eine gute Möglichkeit für Peters Freunde, um im Erinnern und Erzählen nachträglich von Peter Abschied zu nehmen.“

„Danke, die Idee ist wirklich gut“, sagte ich schon ein bisschen erleichtert, „ich werde es mir überlegen.“

Heinke Geiter