Das Flüstern aus der Stille
Im Dauerlauf rannte ich zum Krankenhaus zurück, so gut es ging mit dem schweren Bauch. Mit dem Aufzug fuhr ich nach oben. Aber die Stationstür blieb verschlossen, niemand hörte auf mein Klingeln. So hockte ich mich vor die Tür und rauchte wieder, obwohl es verboten war. Endlich ließ man mich rein. Ich rannte direkt zu Johannes ins Zimmer, dachte, er wäre tot, aber er war wach. „Wo warst du? Zuhause?“ Ich schüttelte den Kopf. Er schaute mir mit großen Augen ins Gesicht, dann wanderten seine Blicke zu meinem Bauch. Ich sterbe!, flüsterte er plötzlich. „Johannes!“, schrie ich. „Ich liebe dich!“ Wieder zerrte eine Schwester an meinem Arm, doch ich ließ mich nicht fortziehen. Johannes sah mir in die Augen. Dann glitt sein Blick auf meinen Bauch. Er wollte etwas zu mir sagen, aber aus seinem Mund kam keine Stimme mehr. Auch seine Finger konnte er kaum noch bewegen. Ich umfasste sie, sie waren warm, und versuchte, ihm meine Liebe durch den Händedruck zuströmen zu lassen. Er spürte es. Da erschütterte ein Ruck seinen Körper, er riss die Augen auf, und ich sah seine Augäpfel hervortreten und die Iris nach oben rollen. Ich schrie noch einmal: „Johannes!“, und nun zerrte die Schwester mich endgültig weg. „Wir müssen es mit künstlicher Beatmung versuchen!“, hörte ich die Mediziner. „Er ist gestorben!“, rief ich, aber niemand beachtete mich.
Es wurde Abend, und ich durfte in dem kleinen Sprechzimmer sitzen bleiben. Der Arzt fragte mich nach weiteren Angehörigen. Tonlos nannte ich die Telefonnummern seiner Mutter und seines Sohnes. Der Arzt ging, und unbeachtet kehrte ich in das Behandlungszimmer, in dem Johannes lag, zurück und sah, dass seine Arme und Beine voll Blut waren von all den Injektionen, die die Ärzte noch zu legen versuchten.
Ich schlief nicht in dieser Nacht. Ich saß nur auf dem Stuhl und versuchte Johannes zu hören und zu spüren, erreichte ihn aber nicht. Er ist im Zwischenraum, dachte ich. Sein Körper ist noch nicht ganz tot. Zwischendurch erinnerte sich jemand an mich und brachte mir einen Tee. In den Morgenstunden kam Johannes‘ Sohn Matthias. Johannes‘ Mutter war dabei. Sie wandte ihr Gesicht ab, als sie mich im Sprechzimmer sitzen sah, aber Matthias kam auf mich zu und nahm mich in den Arm. Dann ging er mit der Mutter in das Behandlungszimmer, in dem Johannes am Beatmungsgerät lag. Ich blieb zurück. Ich hörte das Klacken des Beatmungsgerätes auch vor der Tür. Dann kam der Arzt heraus und hielt mir seinen Ehering hin. Ich ließ ihn in meine Hosentasche fallen. „Es tut mir leid“, sagte er. Matthias und seine Großmutter kamen heraus. Sie führten mich aus der Intensivstation. Alle beide weinten, doch keiner schaute mich dabei an. „Ich kann jetzt nicht fahren, “ sagte ich leise. Vor der Tür steckte ich mir eine Zigarette an und Johannes’ Mutter schüttelte den Kopf. „Wo soll ich denn jetzt hin?“, fragte ich. „Wir bringen dich nach Hause. Geht’s dann erstmal?“
Dann war ich in der leeren Wohnung. Alles stand so da, wie ich es bei meinem angstvollen Aufbruch zurückgelassen hatte. Es war Sonntag. Weder ich noch er wurden von unseren Arbeitgebern vermisst. Plötzlich meinte ich, sein Flüstern zu hören. Vielleicht war es wirklich nicht wahr, und er war nur auf der Arbeit, wie immer. Aber er konnte nicht auf der Arbeit sein, denn es war Sonntag und Sonntagvormittag waren Johannes und ich immer gemeinsam zu Hause.
„Mach das Radio an“, wisperte er. Es lief der Sender mit den deutschen Schlagern, die er immer so geliebt hatte. Wenn du mich hörst, dann komm zu mir, sang jemand. Mir war, als hätte er Johannes, der nicht mehr sprechen konnte, seine Stimme geliehen. „Ich höre dich“, flüsterte ich zurück. Ich spürte, wie Johannes sich anstrengte: In allen meinen Träumen bist du bei mir. Und bist du fern, sehne ich mich nach dir. „Was soll ich denn jetzt machen?“, fragte ich in die Musik. Da klingelte es an der Tür; meine Eltern standen mit blassen Gesichtern davor. Sie waren nicht mehr jung und die weite Fahrt hatte sie angestrengt. Noch größer war der Schrecken über Johannes’ plötzlichen Tod. Meine Mutter schaltete das Radio ab. Nun konnte ich die Stimme nicht mehr hören. Aber ich war froh, dass meine Eltern bei mir waren.
Johannes’ Körper musste eine Woche zur Obduktion bleiben, bevor er zur Beerdigung freigegeben wurde. Johannes hatte sich so auf seinen Geburtstag gefreut, ich wollte ein Fest für ihn planen, aber nun musste ich seine Beerdigung vorbereiten. Auf der Arbeit hatte ich mich krankschreiben lassen. Meine Eltern waren wieder abgefahren, sie würden zur Beerdigung wiederkommen. Nun waren Marina und Matthias bei mir. Ihren kleinen Sohn hatten sie bei der Oma untergebracht.
Es war Dienstagmorgen und wir empfingen die Bestatterin. Sie war eine rundliche Dame um die Fünfzig, die sich bemühte, einfühlend zu sein und nicht die kühle Geschäftsfrau herauszukehren. Mit ruhiger Hand legte sie uns einen Katalog mit Särgen vor. Es gab helle in Buche, dunkle in Eiche, glatte und verschnörkelte. Wieder hatte ich das Gefühl, Johannes sei im Raum. Er war nah bei mir, mit seinem schlanken, leichten Körper. Vorsichtig führte er mir die Hand und zeigte auf einen schlichten Sarg aus hellem Holz. „Er will nicht so was Schweres. Er will auch kein Totenhemd mit Halskrause. Er will in unserem Stadtteil begraben werden. Er möchte keine Feuerbestattung.“ Ich gab alles weiter, was ich von ihm zu hören glaubte. Matthias signalisierte Einverständnis. Aber er warnte: „Denk an die Kosten. Er hinterlässt dir nicht viel.“ Wenn ich Johannes in meiner Nähe wähnte, fühlte ich für einen Augenblick Trost. Umso schmerzhafter war es, wenn er mir wieder entschwand und mir bewusst wurde, dass ich hier mit Matthias und Marina alleine saß. Wo war Johannes? Sein Körper lag im Kühlhaus des Krankenhauses und wartete auf die Obduktion. Ich wollte ihn auch nicht mehr sehen. Seine Gliedmaßen, die vielleicht bläulich wurden. Hände, die nicht mehr streicheln konnten und deren Nägel sinnlos noch etwas weiter wuchsen. In der folgenden Nacht, die ich allein in der Wohnung verbrachte, waren sein Duft und seine körperliche Aura bei mir. Am anderen Morgen wollte ich nach ihm fassen, aber griff ins Leere. Der Schrecken, dass er nicht mehr da war, traf mich kalt. Mit meinem schweren Bauch wälzte ich mich aus dem Bett. Um etwas Gefühl für mich zu bekommen, steckte ich mir sich auf nüchternen Magen eine Zigarette an. Ich dachte an Sarah, die nun das Nikotin abbekam. Mir wurde übel und ich drückte die Zigarette nach wenigen Zügen wieder aus. Dann kochte ich mir einen Kaffee. Das Schnorcheln der Kaffeemaschine klang verlassen. Ich machte wieder das Radio an. Wenn du mich verlässt, werde ich weinen. „Ich verlasse dich nicht, habe keine Angst“, sagte ich. Dann wollte ich mir etwas zu essen machen, aber meine Kraft reichte nur dazu, zwei Becher Buttermilch zu trinken. So hatte wenigstens Sarah ihre Nahrung. Das Telefon klingelte. Es war das Krankenhaus mit der Nachricht, dass der Leichnam zur Bestattung freigegeben sei. Mit zitternder Hand rief ich beim Friedhofsamt und bei der Bestatterin an, um den Beerdigungstermin festzulegen. Das Friedhofsamt schlug mir gleich vor, Johannes auf den Hauptfriedhof zu legen „Nein, das will er nicht! Er will hier im Stadtteil bleiben.“ „Dann klären Sie das mit dem dortigen Friedhofsamt.“ Ich rief das Friedhofsamt des Stadtteils an. „Wir haben zurzeit wenig Kapazitäten. Nehmen Sie den Hauptfriedhof. Ich bat und flehte. Der Friedhofsbeamte ließ mit sich reden und lud mich auf den Friedhof ein, damit ich mir ein Grab aussuchen konnte. „Johannes, komm zu mir“, beschwor ich meinen Mann, als ich mich anzog. „Hilf mir, das richtige Grab zu finden.“ Der Friedhof hatte einen alten und einen neuen Teil. Im alten Teil lagen die alteingesessenen Bürger des Stadtteils. Johannes hatte viele dieser Familien gekannt. Der neue Teil, den man über eine Straße erreichte, lag am Rand eines Wohngebietes. Wir waren hier ein paarmal spazieren gegangen und er hatte immer gesagt: „Hier möchte ich nicht begraben werden, sondern auf dem alten Teil.“ Ich musste auf den Vertreter vom Friedhofsamt warten. Der Boden war angefroren. Die Gräber waren mit Erika bepflanzt und mit Gestecken aus Tannengrün bedeckt. Ich stand neben der Trauerhalle, als der Mann kam. Er wollte mich gleich über die Straße führen, aber ich sträubte mich. „Mein Mann will hier liegen“, sagte ich und weigerte mich mitzugehen. Der Vertreter vom Friedhofsamt hatte blonde Haare in einem ähnlichen Farbton wie Johannes, war aber etliche Jahre jünger. Erst hatte er mich gar nicht richtig wahrgenommen, aber nun betrachtete er mich aufmerksam. „Na, viel ist hier aber nicht zu machen“, meinte er. Dann erklärte er mir, dass es Einzel- und Doppel-; Kauf- und Reihengräber gebe. „In das Reihengrab können Sie nicht mit hinein; in ein Kaufgrab dürfen jedoch bis zu acht Urnen.“ Er betrachtete mich, dann bemerkte er unter meinem Mantel wohl meinen Bauch. „Oh je“, meinte er. Ich hätte für Johannes die üppigste und schönste Grabstätte gekauft, aber der blonde Mann führte mich vom Hauptweg weg und meinte: „Hier haben wir noch ein schönes Plätzchen. Etwas am Rand, unter hohen Bäumen, da liegt Ihr Mann sicher gut, und wenn Sie mal nicht zum Gießen kommen, ist es nicht so auffällig.“ Er zeigte auf eine leere Fläche, die an ein Grab anschloss, in dem ein Baby lag. Das Kind, eine kleine Sibylle, war gerade drei Monate alt geworden. Da spürte ich Sarahs Füßchen in meinem Bauch. Sie wog schon über tausend Gramm. In der Nähe der noch auszuhebenden Grabstätte befand sich eine Bank, auf der in dieser Jahreszeit freilich niemand saß. Aber ich stellte mir vor, es wäre Sommer, und ich säße hier mit dem Kind an meiner Brust und spräche heimlich mit Johannes. Dankbar schaute ich den Mann vom Friedhofsamt an. „Sie haben das schön ausgesucht.“ Dann gingen wir in die Trauerhalle, um den Kaufvertrag zu unterschreiben. Ich erwarb das Grab für 25 Jahre. Als ich diese wichtige Entscheidung getroffen hatte, ging es mir etwas besser, aber als das Gespräch vorbei war, wurde ich umso trauriger. Auf dem Heimweg versuchte ich mit Johannes zu reden, ich spürte auch seine Freude über das schöne Grab, aber es half mir nicht über den Schmerz hinweg. Ich musste mit jemandem sprechen, durfte jetzt nicht allein sein. Aber wen sollte ich anrufen? Dadurch, dass Johannes fort war, rückten doch die anderen Menschen nicht automatisch näher! Nicht nur Johannes‘ Kollegen, auch meine hatten mit großem Schrecken auf die Todesnachricht reagiert. Aber niemand rief an. Von Trauernden nimmt man Abstand, man überlässt sie dem Trost im engsten Kreis der Familie. Aber was, wenn der Nächststehene selbst der Verstorbene ist? Wie gern hätte ich wirklich mit Johannes gesprochen! Der Tag der Beerdigung war ein kalter Morgen Anfang Februar. Ein bleicher Sonnenstrahl schien zwischen den Wolken hindurch. Der Sarg war in der Trauerhalle schon aufgebahrt. Zu seinen Füßen lagen Blumengestecke. Auf den Schleifen standen Namen der Angehörigen und einiger Freunde. Den Sargdeckel schmückte ein üppiges Gesteck aus roten und weißen Rosen. Ich hatte die Blumen in der Friedhofsgärtnerei ausgesucht und Johannes hatte mir dabei geholfen. Nun stand ich vor dem Sarg. Aber als ich mich ganz einsam fühlte, berührte ein Sonnenstrahl meine Schläfe. War das ein Kuss von Johannes? Warum war er nur tot? Die ersten Nachbarn kamen, um zu kondolieren. Allmählich füllte sich der Friedhof.
Der Pfarrer sprach freundliche Worte über Johannes. Es war vieles dabei, was Matthias und ich ihm in den Mund gelegt hatten. Dann wurde der Sarg zum Grab getragen. Die Sargträger verbeugten sich und hoben ihre Zylinder. Johannes‘ Mutter weinte in Matthias’ Armen. Das große Blumengesteck war fort, nur eine weiße Rose zierte den Sargdeckel, der langsam nach unten verschwand. Ich musste am Grab stehen bleiben, um die Kondolenzen entgegenzunehmen. Ich hörte Marinas Schluchzen in der Halsgrube ihrer Mutter. Dann musste ich das Mittagessen hinter mich bringen. Dafür hatte ich einen Raum im Gemeindehaus angemietet. Ein Partyservice brachte belegte Brötchen, Streuselkuchen und Suppe. So war es hier üblich. Am späten Nachmittag waren die Gäste endlich fort. Zum Glück waren meine Eltern, Matthias und Marina da. Den Rest der Suppe goss ich in die Toilette. „Vom Leichenschmaus darf man nichts aufheben“, erklärte ich meiner Mutter, die etwas skeptisch guckte.
Nachts schliefen meine Eltern in unserer Wohnung, ich überließ ihnen das Ehebett und rollte mich auf dem Wohnzimmersofa zusammen. Ich sehnte mich nach Johannes‘ Berührung, doch ich konnte ihn nicht spüren. Erst am anderen Morgen konnte ich wieder seine Stimme hören. Er bedankte sich für die schöne Beerdigung. „Johannes ist bei mir. Ich kann ihn hören“, tröstete ich mich laut im Beisein meiner Eltern. „Das ist die Trauer“, sagte mein Vater. „Manche Leute, die einen Menschen verloren haben, meinen ihn reden zu hören.“
Nach einer Woche mussten meine Eltern wieder abreisen. Der Moment, als die Familie fort war und ich allein zurückblieb, war grausam. Ich wusste, dass ich Matthias und Marina jederzeit anrufen konnte, aber in meiner Wohnung war nun niemand mehr außer mir. Ich setzte mich ins Auto, legte den Schwangerschaftsgurt um und fuhr zum Friedhof. Der Blumenschmuck, der bei der Kälte lange gehalten hatte, war nun doch welk geworden. Auch die Namen auf den Schleifen waren verschmutzt. Ich trug die Kränze und Gestecke Stück um Stück zum Kompostbehälter. Sie waren schwer. Ich musste sie vor meine Brust halten, damit mein Bauch nicht unnötig gedrückt wurde. Zurück blieb ein Lehmhügel, in dem ein Holzkreuz steckte.
Susanne Konrad, Freie Schriftstellerin Malßstraße 5, 60320 Frankfurt 069 50 29 68, 0171 9910865, www.susanne-konrad.de