Wenn die Eltern sterben

von Carmen Berger-Zell

Marions Mutter war Diabetikerin und musste regelmäßig an die Dialyse. Mehr als einmal, erzählt sie, habe sie an dem Krankenbett ihrer Mutter gesessen und von ihr Abschied genom-men. Habe ihr erzählt, was ihr auf dem Herzen lag und Gott darum gebeten, er möge sie doch endlich zu sich holen und sie von ihren Leiden erlösen. „Das Schrecklichste“, sagt sie, „war für mich zu sehen, wie sehr sie leiden musste und dass ich nicht helfen konnte.“
Einige Zeit nach dem Tod ihrer Mutter, erzählt sie, kamen ihr die Tränen, und sie fühlte sich plötzlich sehr einsam. „Die ganze Zeit dachte ich, ich wäre erleichtert, wenn meine Mutter endlich erlöst würde von ihren Schmerzen, “ sagt sie, „das war ich auch aber ich war auch sehr traurig. Ich hätte nie gedacht, dass mich der Tod meiner Mutter so mitnehmen würde.“

Wie Marion geht es auch anderen. Auch wenn Söhne und Töchter wissen, dass der Tod für ihre Mütter und Väter eine Erlösung gewesen war, trauern sie. Sie trauern um das Leben mit ihren Eltern. Sie trauern um das, was nicht mehr möglich ist: ein Gespräch, ein Besuch, vielleicht auch sich einen Rat holen zu können. Sie trauern um ihr „Kind sein“, das unwieder-bringlich zu Ende gegangen ist.
Mit dem Tod der Eltern geht ein Teil ihres Lebens zu Ende. Wenn die beiden Menschen, die uns vom ersten Augenblick unseres Lebens an begleitet haben sterben, dann ist das schmerz-lich. Manchmal sogar sehr schmerzlich und es spielt dabei keine Rolle, wie alt ein Mensch geworden ist.
Die Endlichkeit, die der Tod mit sich bringt, wird uns meistens erst bewusst, wenn er in unser Leben getreten ist. Vorher ist für uns kaum vorstellbar, wie es ist, ohne Mutter, ohne Vater zu leben. Erst wenn wir spüren, was nicht mehr möglich ist, wird das „nie mehr“ zur endgültigen Gewissheit und wir trauern um den Menschen, dem wir nicht mehr körperlich begegnen kön-nen.
Nicht selten tauchen dann auch Schuldgefühle und Zweifel auf: Hätte ich einen Notarzt rufen sollen? Habe ich alles richtig gemacht? Hätte meine Mutter, mein Vater lebensverlängernde Maßnahmen abgelehnt? Wäre ich doch nur noch einmal zu ihr gegangen.
Zweifel und Schuldgefühle entstehen sicherlich aus dem Wissen, das es keine Gelegenheit mehr gibt, einen einmal begangenen Fehler oder ein Versäumnis wieder gut zu machen. Sie resultieren aber auch aus unserer Sozialisation.
Wir leben in einer Gesellschaft, die sich überwiegend über ihre Leistung definiert. Erfolgreich sein, Gesundheit und Schönheit sind grundlegende Werte die wesentlich unser Denken und Handeln bestimmen. Wir wachsen in dem Bewusstsein auf, dass alles möglich ist. Alles hängt scheinbar davon ab, ob wir genug Hartnäckigkeit, Ausdauer und Fleiß besitzen, um aus unse-rem Leben etwas zu machen. Gerade erst ist ein neues Buch von Dieter Bohlen erschienen mit dem Titel „Der Bohlenweg. Planieren statt Sanieren“. Mal wieder ein Ratgeber, der uns mit-teilen möchte, dass unser Erfolg von uns selber abhängt.

Wir leben in einer Gesellschaft, in der Niederlagen nicht vorgesehen sind. Was uns dabei ver-loren gegangen ist das Bewusstsein der Sterblichkeit und der Endlichkeit, sagt Fulbert Stef-fensky in seinem Buch „Mut zur Endlichkeit. Sterben in einer Gesellschaft der Sieger“. Was uns verloren gegangen ist, dass das Bewusstsein, dass nicht alles von unserem eigenen Können abhängt. Wir glauben alles ist machbar und stoßen spätestens im Angesicht des To-des an unsere Grenzen.
„Aber wie lernt man, wenn der Zwang zum Können so groß geworden ist, zu fragen, was man nicht tun darf?“ fragt Steffensky. „Wie entkommt man einem ziellosen Machbarkeitswahn, von dem auch die Medizin nicht verschont ist?“ fragt er weiter.
Wir brauchen ein Bewusstsein dafür, dass es im Leben nicht darum geht möglichst erfolg-reich, gesund und schön zu sein. Der Wert eines Menschen hängt nicht davon ab, was er leistet. Zumindest nicht nach unserem protestantischem Glaubensverständnis. Vielmehr glauben wir, dass unser Leben von der Gnade Gottes abhängt.
Das bedeutet: Wir verstehen uns nicht als Macher unseres eigenen Lebens. Gott hat uns geschaffen, so wie wir sind, und das ist genug. Auch diejenigen die nichts oder wenig leisten, sind wertvoll. Es kommt im Leben nicht darauf an, ständig Leistung zu erbringen. „Das, wo-von wir eigentlich leben, können wir nichts selber herstellen: nicht die Liebe, nicht die Freundschaft, nicht die Vergebung, nicht die eigene Ganzheit und Unversehrtheit.“ (S.14) Das, wovon wir leben, wird uns geschenkt.
Was wir brauchen, vor allem im Angesicht des Todes, ist Mut, die Endlichkeit des Lebens anzunehmen, den Mut die Endlichkeit unseres eigenen Könnens zu akzeptieren und den Mut darauf zu vertrauen, dass Gott uns trägt im Leben, im Sterben und im Tod.
Was wir ebenfalls brauchen ist eine Hand die uns liebevoll begleitet, wenn wir sterben und wenn wir trauern.

Carmen Berger-Zell

21. November 2008