Raus aus dem Schattendasein

Pflegefrei, preiswert und nicht von Dauer: So wünschen sich heutzutage die meisten Menschen ihre Grabstätte. Konsequenzen hat die veränderte Bestattungskultur für die evangelischen Friedhöfe. Denn jetzt sind verstärkt betriebswirtschaftliches Denken, gebündeltes Fachwissen und neue Ideen gefragt.

Ein Band aus roten und weißen Blüten wird im Frühjahr die Gräber umsäumen: An der neuen Grabanlage des Friedhofs „Auf dem Auberg“ der Evangelischen Kirchengemeinde Broich-Saarn in Mülheim An der Ruhr sind dafür im vergangenen Spätherbst mehr als 400 Tulpenzwiebeln gesetzt worden. Neben ihnen wachsen Vergissmeinnicht, Zierapfel oder Tropfengras. Die neue Gemeinschaftsgrabanlage hat Platz für zwölf Erdbestattungen und 70 Urnen, sie trägt den Namen „Ruhraue“ und ist dem Flusslauf zwischen Mintard und der Mülheimer Schlossbrücke nachempfunden. Brücke und Ruhrinsel sind im Kleinformat angelegt, Basaltsteine bilden das Flussbett, die Ufer sind bepflanzt (Foto oben).

Keines der Gräber an der „Ruhraue“ muss von Angehörigen gepflegt werden, damit reagierte die Kirchengemeinde auf veränderte Bestattungswünsche: Denn immer weniger Menschen möchten ihre Hinterbliebenen mit dem Jäten, Gießen und Pflanzen an Urne und Sarg belasten. Das bestätigt eine Umfrage aus dem Vorjahr im Auftrag der Verbraucherinitiative für Bestattung „Aeternitas“: Demnach wünschten sich nur ein Viertel der Befragten eine klassische Begräbnisstätte mit Pflegeaufwand, im Jahr 2013 wollten dies laut Aeternitas noch knapp die Hälfte der Befragten.

Nachkommen sind älter oder leben weit weg

„Die Menschen möchten nicht nur aus Kostengründen ein pflegefreies Grab“, ist die Erfahrung von Christoph Pfeiffer, Pfarrer der Gemeinde Broich-Saarn. Auch die zunehmende Mobilität und die demografische Entwicklung spielten eine Rolle: „Wenn Menschen heute mit etwa 90 Jahren sterben, sind auch deren Kinder bereits älter und nicht immer fit für die Grabpflege.“ Zudem lebten Kinder und Enkel aus beruflichen Gründen oft weit entfernt.

Sterben Menschen mit über 90, sind auch ihre Angehörigen
nicht immer fit für die Grabpflege

Folgen haben die zunehmend pflegefreien und damit preiswerten Gräber für die 160 evangelischen Friedhöfe im Gebiet der rheinischen Landeskirche: Die Einnahmen sinken, und da zurzeit bis zu zwei Drittel der Bestattungen in einer Urne stattfinden, entstehen außerdem immer mehr unbelegte Flächen. „Darauf sollten die Friedhofsverwaltungen unbedingt reagieren“, sagt Cornelia Böhm, Friedhofsdezernentin der Evangelischen Kirche im Rheinland. Neue Konzepte und vor allem betriebswirtschaftliches Denken seien jetzt verstärkt gefragt.

Denn laut Friedhofsordnung der Landeskirche sind Friedhöfe ausschließlich mit ihren Gebühren zu finanzieren, Kirchensteuern und kirchliches Vermögen dürfen nicht in Anspruch genommen werden. Das Führen eines Friedhofs erfordere heute spezifisches Fachwissen und sei von den ehrenamtlichen Leitungskräften der Presbyterien kaum mehr allein zu leisten, betont Cornelia Böhm.

Über den eigenen Friedhofsrand schauen

Aus diesem Grund übergibt der Evangelischen Kirchenkreis Altenkirchen im Westerwald demnächst seine letzten beiden Friedhöfe in kommunale Trägerschaft. Und darum arbeitet die Evangelische Friedhofsverwaltung Niederberg mit Sitz im bergischen Velbert überregional und hat derzeit 15 Friedhöfe aus den Kirchenkreisen Niederberg, Düsseldorf-Mettmann und An der Ruhr unter ihre Fittiche genommen – darunter den Friedhof „Am Auberg“ der Gemeinde Broich-Saarn.

Pflegefrei und in Gemeinschaft: Anlage auf dem
evangelischen Friedhof in Wuppertal-Norrenberg

Gebündelt wird das Fachwissen ebenfalls beim Evangelischen Friedhofsverband Wuppertal, der 1984 gegründet wurde und damals sechs evangelische Friedhöfe verwaltete – mittlerweile sind es bereits 23. Spürbar hat sich in dieser Zeit auch in Wuppertal die Nachfrage verändert. „Wenn bei euch irgendwo eine Grabstelle frei wird, dann nehmen wir die“, das bekam Ingo Schellenberg, Geschäftsführer des Evangelischen Friedhofsverbands, noch in den 90er-Jahren zu hören. „Wenn heute die Liegezeit eines verstorbenen Menschen abgelaufen ist, möchten fast 80 Prozent der Angehörigen die Grabstätte auflösen oder verkleinern.“

Planen für die nächsten Generationen

Neue Konzepte setzt der Friedhofsverband Wuppertal bereits um, und es entstehen thematisch gestaltete Gemeinschaftsgrabanlagen mit Namen wie „Feld der Erinnerung“ oder „Feld der Höhen und Tiefen“. Weitere Ideen sind ein Bibelgarten, Trauerwege, eine Boule-Anlage und weitere Orte der Kommunikation auf den Friedhöfen. Doch trotz unbelegter Gräber gestalte sich das Umsetzen der Pläne kompliziert, berichtet Ingo Schellenberg. „Denn freie Erdgräber liegen vereinzelt in den belegten Reihen, und von oben sieht das dann eher aus wie ein Flickenteppich.“

Selbst bei größeren Freiflächen gestalte sich deren Umwidmung als langwierig: „Sie dürfen mitunter nicht bebaut werden, weil sie in einer Einflugschneise oder ausgewiesenen Umweltzone liegen.“ Generell sei das Umgestalten der Friedhöfe eine langwierige Angelegenheit: „Es dauert bis zu 40 Jahre, bis auf einem Feld das letzte Grab wegfällt, und mit der von der rheinischen Kirche gesetzten Pietätfrist vergehen dann noch einmal zehn Jahre bis eine andere Nutzung zulässig ist.“

Am Ende entscheidet nicht allein der Preis

Nicht allein preiswert soll der Bestattungsort sein, die Menschen möchten
ihn außerdem ansprechend gestaltet haben

Dass sich Planen jedoch finanziell rentiert, zeigt die „Ruhraue“ in Mülheim An der Ruhr. „Ihr Anlegen hat uns zwar 25.000 Euro gekostet, doch bereits nach acht Wochen waren 20 Grabstellen verkauft, viele weitere vorgebucht“, sagt Thomas Schmitt, Leiter der Friedhofsverwaltung Niederberg. Gründe für die große Nachfrage seien die ansprechende Gestaltung und die niedrigen Gebühren. So kostet etwa das pflegefreie Urnengrab an der „Ruhraue“ samt Stein 1032 Euro bei einer Liegedauer von 15 Jahren. Zum Vergleich: Für ein Erdgrab wird auf dem Friedhof ein Betrag von 2060 Euro fällig, hinzu kommen die Ausgaben für einen Grabstein und Kosten für die Pflege, die zwischen 200 und 600 Euro jährlich betragen können.

Dass nicht alleine der Preis entscheidet, sondern ebenso aussagekräftige Konzepte, das erlebt Thomas Schmitt auch andernorts: Ein Platz auf dem als Schlüssel gestalteten Grabfeld auf dem evangelischen Friedhof der Schlösser und Beschläge produzierenden Stadt Velbert sei ebenfalls sehr begehrt. Im Frühjahr wird in Velbert außerdem ein Feld mit 100 Gräbern und 600 Urnenplätzen samt Rosengarten und Pavillon eröffnet. „Dafür suchen wir übrigens noch einen großen Schiffsanker, der dort platziert werden soll“, sagt Thomas Schmitt.

Der Friedhof ist ein Ort für die Lebenden

Nicht nur die Anlagen, auch die Gräber selbst sollten kreativer gestaltet werden dürfen, meint Ingo Schellenberg von der Wuppertaler Friedhofsverwaltung. „Wir sollten unsere Satzungen überdenken, sie liberalisieren und offener für die Wünsche und Bedürfnisse der Menschen sein.“ Porträtfotos oder ein eingemeißeltes Motorrad für den Sportliebhaber kann er sich zum Beispiel auf Grabsteinen vorstellen.

Grenzen setze allein der christliche Glaube, ergänzt Ingo Schellenberg: „Auf keinem evangelischen Friedhof wird ein Mensch anonym bestattet, ebenso gibt es keine Grabsteine aus Kinderarbeit.“ Und natürlich erklinge nicht das „Highway to Hell“ bei einer Beerdigung, ergänzt Pfarrer Christoph Pfeiffer aus Broich-Saarn. Doch nichts spreche etwa gegen die Jazz-Combo, die nach US-amerikanischem Vorbild neulich auf seinem Friedhof gespielt habe.

Ein Ort der Hoffnung: der evangelische Friedhof in Wuppertal-Schellenbeck

„Unsere Friedhöfe sind Orte der Barmherzigkeit und der Verkündigung, an denen wir auch mit kirchenfernen Menschen in Kontakt kommen“, unterstreicht Friedhofsdezernentin Cornelia Böhm. „Wir müssen die Friedhöfe daher aus ihrem Schattendasein holen und die Öffentlichkeitsarbeit für sie weiter vorantreiben.“ Denn ein Alleinstellungsmerkmal hebe doch die kirchlichen Dienste von der großen Konkurrenz durch private Anbieter ab: „Wir haben die Hoffnung.“

In einem Video auf der neuen und gemeinsamen Internetseite „Ort der Hoffnung“ der lippischen, rheinischen und westfälischen Landeskirchen bringt das Theologin Friederike Lambrich auf den Punkt. „Der Friedhof ist für mich ein ganz besonderer Ort, weil hier deutlich wird, woran ich eigentlich glaube: nämlich, dass der Tod kein Ende ist, sondern ein Anfang“, sagt die Pfarrerin aus Erkelenz-Lövenich im Kreis Heinsberg.

Text: Sabine Eisenhauer
Fotos: Annika Lante, Ev. Kirchenkreis Mülheim An der Ruhr (1), Aeternitas (2), Friedhofsverband Wuppertal (2)

03. Februar 2020