Glashaus

Haltet die Welt an

Ein intensiver Song über die Trauer, die das Lebensgefühl besetzt hält und jede Lebendigkeit nimmt und die gerade deshalb so bedrückend ist, weil sie noch keinen Ausdruck gefunden hat. „Es ist nicht zu beschreiben, wie kalt und leer es ist. Ich versuche nicht zu zeigen, wie sehr ich dich vermiss. Meine Freunde tun ihr Bestes, aber das Beste ist nicht gut genug …“ Die Trauernde versucht, sich selber zu überreden: „Seitdem du weg ist, ist so manches ,o.k‘ … ich bin wirklich gesegnet …, hatte Glück und vieles ist super wie es ist.“ Aber es hilft nicht, sich selber gut zu zureden, ebenso wenig wie das Zureden der Freunde hilft. Jetzt kann die Trauernde sich endlich ihrer Verzweiflung hingeben, es bricht aus ihr heraus: „Dies ist ein Akt der Verzweiflung – ein stummer Schrei eines Menschen voller Leid und seiner Wunde, die nicht teilt. Es ist ein letzter Kampf gegen das woran es liegt; wie ein Vogel mit nur einem Flügel, der bestimmt nicht fliegt.“ Der erste Schritt, der den Fluss der Trauer in Gang bringt, ist vielleicht der härteste: zu realisieren, dass der Tote wirklich tot ist, dass geteiltes Leben auf die vertraute Weise nicht fortgesetzt werden kann. Der erste Schritt ist die Klage. Sie verbindet sich sofort mit dem Schrei des Protestes: „Bei Gott es fehlt ein Stück – haltet die Welt an! Es fehlt ein Stück – sie soll stehen! Und die Welt dreht sich weiter und dass sie sich weiterdreht, ist für mich nicht zu begreifen … merkt sie nicht, dass einer fehlt?“

Wahrnehmen, dass der Tote wirklich tot ist, Klage und Protest: der Fluss der Trauer durchbricht die Verhärtung des Nicht-wahr-haben-Wollens und So-Tuns-als-ob. Damit beginnt die Zeit, die für die Trauernde selber, auch für ihre Umgebung vielleicht die härteste Zeit ist. Aber es hilft nicht, die Trauer muss durchschritten oder durchschwommen werden, vielleicht findet sie ihre Gestalt in besonderen Orten und Zeiten, die noch einmal mit dem Verstorbenen geteilt werden können. Die Bewegung ist nötig: dass die Trauer sich nicht staut wie ein See, indem die Trauernde versinkt, sondern dass sie abfließen kann. Wie lange dies dauern wird, wie oft ein bereits erreichter Stand des Akzeptierens und Der-Welt-Vertrauens wieder verloren geht und neu gewonnen werden muss, ist offen. Die Trauer ist in Fluss gekommen, und der wird seine unerwarteten Windungen und Unterbrechungen haben, aber nicht wieder vollständig umkehren: Nach und nach gelingt es vielleicht, sich dem Geschenk des Lebens wieder zu öffnen – und auch dem, der das Leben schenkt. Der langsame, intensive Soul der musikalischen Gestalt dieses Songs eröffnet einen Raum, bringt in Fluss, geht ins Herz, so dass Trauer provoziert, die Realisierung des Todes erleichtert und auch Schutz gegenüber dem Bedrohlichen und Zerstörerischen des Todes angeboten wird.

Hans-Martin Gutmann

Song: Haltet die Welt an, aus: Glashaus 3 (2005), Cassandra Stehen, Moses Pelham, Martin Haas. Label 3p