Holzkreuz vom Laub ĂŒberrankt

Die sechs Facetten der Trauer

Die sechs Trauerfacetten nach Chris Paul

Nach dem TrauerKaleidoskop-Modell von Chris Paul sind wĂ€hrend eines Trauerweges sechs Bereiche („Facetten“) zugleich prĂ€sent, wechseln sich dynamisch ab – mal stĂ€rker, mal schwĂ€cher.

1.    Ăœberleben

Der unmittelbare Überlebensmodus steht im Vordergrund. Alles, was zum Durchhalten beitrĂ€gt, wird genutzt – Ablenkung, Distanz, funktionales Verhalten. Es geht darum, den Tag ĂŒberhaupt zu ĂŒberstehen. 

2.    Wirklichkeit begreifen

Begreifen, dass ein geliebter Mensch wirklich tot ist, ist schwer. Das „Be-greifen“ im wörtlichen Sinn – etwa beim Sterbebett, der Totenwache oder beim Abschiednehmen – hilft, den Tod zu realisieren. Auch das klare Aussprechen und ErzĂ€hlen der Geschichte des Abschieds macht den Verlust greifbarer. Informationen zum Tod und GesprĂ€che darĂŒber unterstĂŒtzen das Verstehen der EndgĂŒltigkeit. 

3.    GefĂŒhle

Trauer geht mit einer Vielzahl intensiver und oft widersprĂŒchlicher GefĂŒhle einher – wie Verzweiflung, Wut, Sehnsucht, Angst, Liebe oder Dankbarkeit. So anstrengend und verwirrend diese Emotionen auch sein mögen, sie sind wichtig fĂŒr die Verarbeitung des Verlusts. Damit sie helfen können, mĂŒssen sie Ausdruck finden – z. B. durch TrĂ€nen, RĂŒckzug, GesprĂ€che, Rituale oder kreative Gestaltung. Trauer zeigt sich nicht nur seelisch, sondern auch körperlich: Herzschmerz, Atemnot, MagenkrĂ€mpfe, Schlafstörungen oder Erschöpfung können direkte Folgen des seelischen Schmerzes sein. Erst wenn der innere Schmerz Ausdruck findet, kann auch der körperliche Schmerz allmĂ€hlich nachlassen.

4.    Sich anpassen

Nach dem Verlust eines nahen Menschen verĂ€ndert sich das eigene Leben grundlegend. Trauernde mĂŒssen sich an neue Alltagssituationen, verĂ€nderte Rollen in Familie und Partnerschaft sowie an die Reaktionen ihres Umfelds anpassen. Dabei ist es oft anstrengend, mit unterschiedlichen Verhaltensweisen anderer Menschen umzugehen und neue Wege zu finden, das eigene Leben zu gestalten.

5.    Verbunden bleiben

Nach dem Tod eines Menschen fehlen die körperlichen Formen der Verbindung wie BerĂŒhrungen oder gemeinsame AktivitĂ€ten. Stattdessen entsteht eine innere Verbundenheit durch Erinnerungen, TrĂ€ume und wahrgenommene „Zeichen“. Verstorbene können als unterstĂŒtzende, freundliche PrĂ€senz erlebt werden, Ă€hnlich wie Schutzengel. Dabei wird die Beziehung mit all ihren Licht- und Schattenseiten erinnert. Anders als frĂŒher angenommen, ist es heute anerkannt, dass positive innere Verbindungen zu Verstorbenen die Trauernden stĂ€rken und ihnen helfen, offen fĂŒr das Leben und andere Menschen zu bleiben.

6.    Einordnen

Trauerprozesse lösen nicht nur intensive GefĂŒhle aus, sondern stellen auch hohe Anforderungen an unser Denken. Jede „Warum?“-Frage und die Suche nach einem neuen Sinn im Leben sind komplexe geistige Aufgaben. Wenn ein naher Mensch stirbt, gerĂ€t das eigene Weltbild ins Wanken: Man hinterfragt, ob die bisherigen Überzeugungen noch stimmen oder neu interpretiert werden mĂŒssen. Fragen wie „Bin ich wirklich so stark oder gut, wie ich dachte?“, „Ist die Welt gerecht?“ oder „Heilt Liebe wirklich alle Wunden?“ kommen auf. Der Verlust kann frĂŒhere Ängste bestĂ€tigen oder dem bisherigen Optimismus widersprechen. Die Neubewertung der Vergangenheit beeinflusst, wie man die Gegenwart wahrnimmt und auch die Hoffnung auf die Zukunft. Eine dĂŒstere Sicht auf die Vergangenheit kann Freude und Zufriedenheit fĂŒr die Zukunft erschweren. Andersherum schafft ein ausgewogenes Annehmen von Freude und Leid eine bessere Grundlage, um wieder Lebensfreude zu entwickeln.


Literaturhinweis: Chris Paul, Ich lebe mit meiner Trauer. Das Kaleidoskop des Trauerns fĂŒr Trauernde.