Richard Strauss

Vier letzte Lieder – Drittes Lied: Beim Schlafengehen

Nun der Tag mich müd gemacht,
Soll mein sehnliches Verlangen
Freundlich die gestirnte Nacht
Wie ein müdes Kind empfangen.

Hände lasst von allem Tun,
Stirn vergiss du alles Denken,
Alle meine Sinne nun
Wollen sich in Schlummer senken.

Und die Seele unbewacht
Will in freien Flügen schweben,
Um im Zauberkreis der Nacht
Tief und tausendfach zu leben.

(Hermann Hesse)

Oft schon ist der Tod mit dem Schlaf und das Sterben mit dem Einschlafen verglichen worden: „Komm, o Tod, du Schlafes Bruder…“ So stellt auch Richard Strauss (1864 – 1949) Hermann Hesses Gedicht „Beim Schlafengehen“, das dem dritten seiner „Vier letzte(n) Lieder(n)“ zum Ende seines musikalischen Schaffens kurz nach dem Krieg 1946/47 zugrunde liegt, in einen Zyklus, der versöhnlich von Schlafen und Sterben, Abendstimmung und Abschied spricht.

Die Form des Liedes kommt hier mit dem Inhalt des Gedichts im Wesentlichen überein, nämlich in der ruhigen Rückkehr zu kindlicher Einfalt und freundlicher Schlichtheit. So wird in konzentrierter Andacht deutlich, wie es bei allen ermüdenden Verdeckungen, Ablenkungen und Verstellungen des umtriebigen Tages mit unserem Leben im Grunde bestellt ist. In sich langsam steigernden Aufwärtsbewegungen werden wir mit der Violin- und Sopranstimme zu einer harmonischen Weisheit mitgenommen und fortgetragen, schwingen uns zu sternenklaren Nachtsphären auf, um so von uns selbst, von allem eigensinnigen Denken und Tun frei zu werden, frei für ein erstes und letztes stilles Empfangen, für ein dankbares, entspanntes Annehmen der geheimnisvollen, unauslotbaren Tiefe des Lebens. Denn alles Wesentliche ist zuerst und zuletzt Geschenk und Gabe. Die Erfüllung im tausendfachen Reichtum des Lebens können wir Tagwesen bei aller Sehnsucht und bei allem Verlangen nicht herstellen. Wir können sie nur entdecken, indem wir alles, auch und gerade uns selbst und unser Ich lassen und aufmerksam werden auf das, was uns gegeben ist und wird.

Solche lebensweise Gelassenheit ist keine Frage des Alters oder besonders gesegneter Lebensumstände. Sie kommt nicht nur, wenn wir alt und lebenssatt geworden sind. Sie ist jedem und jederzeit möglich, wenn uns der Blick im vielen Kleinen und Kleinsten für das Eine und Ganze zauberhaft geöffnet und geweitet wird und wir uns da hinein staunend versenken und die Seele entgrenzen lassen. Das geschieht zuweilen an der Schwelle zwischen Wachen und Einschlafen, wenn wir vor lauter Müdigkeit nicht an unser Wiedererwachen nach dem Schlaf denken. Und so kann es im Lied wie im Gedicht auch offen bleiben, ob nach dem Todesschlaf ein erneutes Erwachen kommen wird oder nicht. Die Erfüllung gehört der Gegenwart und nicht erst der Zukunft an, so wie der Glaube, der in der Bibel wie das Sterben als ein sich und alles Lassen beschrieben wird, als ein Vertrauen auf das, was uns (von Gott) gegeben und getan ist, nicht ein Mittel oder Durchgang zur zukünftigen Seligkeit und Erfüllung, sondern diese selbst schon hier und jetzt ist.

Daher muss das Sterben keine Angst machen und der Tod uns nicht schrecken. In kindlicher Einfalt und schlichtem Überlassen ist der Tod weder schön noch hässlich, weder zu suchen noch zu fliehen, weder anziehend noch abstoßend. Das ist er nur für unser Denken und Empfinden. Aber dieses entgleitet uns im Schlaf wie im Sterben ins Vergessen und leitet uns nicht mehr. Vielmehr werden wir von dem geleitet und getragen, was Grund und Bestand allen Lebens in seinen unendlichen Formen ist. So verbindet Strauss ganz unpathetisch, unaufdringlich und tröstlich Melodie und Metrum, Harmonie und Wort zu einem wehmütigen Abschiednehmen angesichts des „Letzten“ in verhaltener Lebensbejahung des „Liedes“.

Hartmut Rosenau