Jan Garbarek & The Hilliard Ensemble

Officium

Lass ab von mir! Ein Hauch nur sind ja meine Tage.
Was ist doch der Mensch, dass du ihn groß achtest
und dass du dich um ihn bekümmerst?
Dass du ihn heimsuchst jeden Morgen
und jeden Augenblick prüfst?
Wann endlich blickst du weg von mir
und lässt mir Ruhe einen Augenblick nur?
Habe ich gesündigt, was schadet es dir, du Menschenhüter?
Warum hast du mich zur Zielscheibe gemacht?
Warum bin ich dir zur Last geworden?
Und warum vergibst du mir nicht mein Vergehen
und lässest nicht hingehen meine Schuld?
Denn nun werde ich in den Staub mich legen,
und wenn du mich suchst, so bin ich nicht mehr.
(Hiob 7,16-21)

„Officium“ ist eine Sammlung von sechs vornehmlich gregorianischen Gesängen. Am Anfang, in der Mitte und am Ende wird sie von einem Stundengebet zum Totengeleit umrahmt und getragen. Im „Parce mihi domine“ des Officium defunctorum von Christóbal de Morales (ca. 1500-1553), einem spanischen Komponisten der Renaissance, kommt die Klagestimme des Toten noch einmal erinnernd zu Gehör. Mit den Worten Hiobs fleht er, Gott möge ihn vom Leiden verschonen und von ihm absehen.

Klar, weit und geordnet heben die Stimmen in die Lüfte gen Himmel an und bleiben doch auf der Erde. Die meditativen Choräle im Hall alter Kirchenmauern geben beim Hören Stabilität und Weite. Der wiederkehrende Gesang scheint bewusst einen Pfahl nach unten ins Totenreich zu schlagen. Immer wieder versichern die Stimmen auch nach unten hin: Keine der Klagen verstummt, keine bleibt unerhört.

Darüber schwingt sich in der Horizontale Garbareks Saxophonimprovisation: Schritt für Schritt erklimmt die Melodie die obere Tonhöhe – wie ein Vogel daran erinnernd, dass bei aller irdischen Bindung das Aufsteigen nicht ausgeschlossen ist. Mit Gottes rauer, aber klarer Stimme antwortet sie: „Ich lasse dich nicht allein dort unten!“ Der nackte Tod bleibt nicht, sondern wird mit dem Geist Gottes bedeckt und überflügelt.

Ich nehme den Klang in mir auf: Ton für Ton richte ich mich auf, atme durch, breite die Arme weit auseinander und bahne den Kopf geradeaus, nach oben. Hörend spüre ich, dass ich nicht loslassen muss, was mich (von) unten festhält. Enttäuschung, Entsetzen, Trauer, Wut, Ohnmacht, all das darf und muss sein. Und doch geben diese Klänge Raum zum Atmen; sie weiten mein Inneres nach vorn empor; ich kann seufzen.

Die Klage über den tiefen Tod findet Resonanz im Frei-Raum von rauem, aber spielerisch-lebendigem Ausdruck. Die Klangräume bewegen zum unendlichen Hinhören und achtsamen Antworten auf Stimmen endlichen Leidens.

Silke Leonhard