Gustav Mahler

Kindertotenlieder

Gustav Mahlers „Kindertotenlieder“ nach Texten von Friedrich Rückert entstanden 1901 und 1904. Wenig später stellte sich ein schrecklicher biographischer Kontext ein, als eins der Kinder Mahlers 5jährig an Scharlach-Diphterie starb. Er hätte den Teufel an die Wand gemalt, hielt Alma Mahler ihrem Mann Gustav vor. Friedrich Rückert hatte um die Jahreswende 1833/34 kurz hintereinander zwei Kinder durch Scharlach verloren und hatte versucht, sich in 428 „Kindertodtenliedern“ den Schmerz von der Seele zu schreiben. Mit sicherem Gespür für einen schlüssigen Zusammenhang wählte Mahler fünf Gedichte aus.

In den ersten vier Liedern mischen sich Depression und Regression mit der Unfähigkeit zu realisieren, was geschehen ist. Mahler findet einen berührenden Klageton, aus dem immer wieder leuchtende Dur-Passagen aufblühen, die unvermittelt wieder zurücksinken nach Moll, bis sich am Ende alles in tiefem, verschwebendem D-Dur löst.

Das kann nicht wahr sein, ist die erste Reaktion, wenn jemand Nahes gestorben ist. „Oft denk ich, sie sind nur ausgegangen. Bald werden sie wieder nach Hause gelangen“ beginnt das 4. Lied. Rückzug auf sich selbst, auch Selbstmitleid stellen sich ein: „Das Unglück geschah nur mir allein.“ Oder: „Wenn dein Mütterlein tritt zur Tür herein . fällt auf ihr Gesicht erst der Blick mir nicht, sondern auf die Stelle . dort, dort würde dein lieb‘ Gesichtchen sein, wenn du freudenhelle trätest mit herein .“

Der Blick geht zurück und manches wird neu gedeutet: „Nun seh ich wohl, warum so dunkle Flammen ihr sprühtet mit in manchem Augenblicke, o Augen . gleichsam, um voll in einem Augenblicke zu drängen eure ganze Macht zusammen.“ Im letzten Lied brechen die Erschütterungen vollends aus, das Bild des Sturms symbolisiert das emotionale Chaos: „In diesem Wetter, in diesem Braus, nie hätt ich gesendet die Kinder hinaus, man hat sie hinausgetragen, ich konnte nichts dazu sagen.“ Hier sind die „Kindertotenlieder“ in Dynamik und Schmerz auf dem Höhepunkt. Aber der Sturm geht über in ein Wiegenlied, das in der Musik alles auffängt, und das die verlorenen Kinder in Gottes Armen geborgen weiß: Wir holen sie ein . im Sonnenschein, der Tag ist schön auf jenen Höh’n! . von keinem Sturm erschrecket, von Gottes Hand bedecket, sie ruh’n wie in der Mutter Haus.

In dieser Musik ordnen sich Trauer-Gefühle nicht schematisch, sondern lebendig verschlungen im Hin und Her und endlichen Herausfinden. Der Zyklus endet in tiefem Frieden.

Bernhard Leube