Antonín Dvorák
Biblische Lieder für Sopran und Orgel op. 99
Nr. III
Gott, erhöre mein Gebet;
verschließe dein Ohr nicht meinem Flehn.
Neige dich zu mir und höre mich,
wie ich täglich zage, wie ich klage und weine.
Angstvoll schlägt das Herz in mir,
mich packen des Todes Schrecken,
schon fasst mich an kaltes Grauen.
Und ich seufze: O hätte ich Taubenschwingen,
dass ich flöge in weite Irre.
Rast zu suchen in der Ferne
und Ruhe in der Wüste.
Wie würde ich eilen,
zu entkommen dem Sturm und Ungewitter.
(nach Psalm 55,1-9; Übersetzung aus dem Tschechischen von Sigrid Spaich)
Musik ist empfundenes Leben und lebendiges Empfinden.
Wer diese Musikdichtung ganz nahe an sich herankommen lässt, möchte sie atmen.
Antonin Dvorak (1841-1904) schrieb die Biblischen Lieder während seines dreijährigen Aufenthaltes in New York (1892-1895). Er leitete das Konservatorium für Musik. Eine ehrenvolle Berufung. 52 Jahre war er. Nach einer langen Schaffensperiode seines Lebens erst erfuhr Dvorak Anerkennung und Würdigung. Die Musik war sein Leben und in seiner Musik vereinigte sich alles, was seine Person und sein Leben ausmachte: seine Heimat, die Natur, die Familie, die Freunde, seine kulturelle Offenheit, alles das ohne Allüren, eingebettet in eine tiefe Religiosität. Sprühende Lebensfreude waren ihm eigen und Schmerzliches ging ihm sehr nah.
Es drängte ihn, in nur drei Wochen des März 1894 die 10 Biblischen Lieder zu schreiben. Jedes Lied gibt einen tiefen Einblick in ihn selbst, so auch die musikalische Dichtung nach Psalm 55,1-9. Seine besten Freunde waren verstorben. Dvorak und seine Frau hatten Heimweh und sehnten sich nach den dort verbliebenen Kindern. Seine Verehrerin Jeanette Thurber war in finanzielle Not geraten und konnte ihn nicht mehr unterstützen. Sein Vater lag im Sterben.
Von all dem spricht die Vertonung des Psalm 55. Dvorak betet, gebeugt, leise, zurückhaltend zunächst. Die Orgel lässt den Missklang in seinem Leben erkennen. Dann kann man geradezu sehen und spüren, wie er sich aufbäumt , wie er seine Trauer und Angst heraus schreit; er wird laut Der Tod ist um ihn und in ihm. Schließlich kommt jener Traum, der so vielen vertraut ist in unruhigen Nächten: fliegen zu können, zu entkommen und wieder ganz bei sich selbst zu sein, gerettet. „O hätte ich Taubenschwingen“. Das Gebet verleiht ihm Flügel Mit seinem Singen fliegt ihm der Vogel voraus. In der Wüste endlich kommt er zur Ruhe, dem Ort der Begegnung mit Gott. Traumhaft schön. Der Zufluchtsort ist die Stille und die Weite. Sturm und Ungewittern ist er entkommen. Man hört es, wie er sie hinter sich lässt . Dvorak wurde 62 Jahre alt.
Ich glaube, dass man in diesen Psalm und in diese Musik das eigene Leben und Erleben hineinweben kann.
Helmut Faber