Nehmt Abschied Brüder, ungewiss

Die Melodie geht zu Herzen. Sie klingt wehmütig und sehnsüchtig zugleich. Sie ist schlicht und ergreifend und sie hat mich vom ersten Hören an nicht mehr losgelassen. Damit stehe ich nicht allein. In seiner ursprünglichen englischen Fassung „Auld lang syne“ ist das Lied das! Silvester/Neujahrslied schlechthin im englischsprachigen Raum. Es wird um Mitternacht gesungen, zur Verabschiedung des alten und zur Begrüßung des neuen Jahres: Abschied und Anfang im gleichen (Sing-)Atemzug. In dieser Tradition wird mit dem Lied auch der Toten des vergangenen Jahres gedacht. Der englische Text erzählt entsprechend vom Wert alter Freundschaft und gemeinsamer Erlebnisse. Die Verstorbenen werden durch den rituellen Gesang gleichzeitig liebevoll  dem Vergangenen (Jahr) „zugeordnet“ und mitgenommen in den Anbruch einer neuen Zeit (des neuen Jahres).

Der deutsche Liedtext geht in eine ähnliche Richtung, setzt den Schwerpunkt aber etwas anders. Es geht grundlegend um Abschied und die Gefühle, die damit verbunden sind: „Nehmt Abschied, Brüder, ungewiss ist alle Wiederkehr, die Zukunft liegt in Finsternis und macht das Herz uns schwer.“ (Natürlich kann man auch „Schwestern“ singen!)

Die Pfadfinder haben das Lied aufgenommen. Vor dem Auseinandergehen nach intensiv verbrachter gemeinsamer Zeit wird „Nehmt Abschied“ gesungen. Der Blick in die Flammen eines Lagerfeuers, das Holz zu Asche werden lässt, passt gut zu dem Empfinden, dass etwas unwiederbringlich vorbei ist, dass die erlebte Gemeinschaft so nie wiederkehrt. Aller Schmerz, alle Sehnsucht, die damit verbunden sind, prägen die folgenden Strophen.

Worte und Bilder passen auch zu einem endgültigen Abschied durch den Tod: „Wir kommen her und gehen hin und mit uns geht die Zeit.“ Andere Aussagen im Liedtext sind aus christlicher Sicht heikel, z.B. „Das Leben ist ein Spiel. Nur wer es recht zu leben weiß, gelangt ans große Ziel“. Die Bedingung widerspricht der Erlösung allein durch Gottes Gnade und klingt zu sehr nach Leistungsprinzip. Dennoch überwiegt für mich bei weitem der Trost, der in Zeilen wie „Wir ruhen all in Gottes Hand, lebt wohl auf Wiedersehn!“ zu finden ist.

Das Lied wird in Aufnahmen oft eher volksliedartig, manchmal zu „harmlos“ gesungen. Schließlich geht es um einschneidende Erfahrungen und starke Gefühle. Die „Toten Hosen“ haben als „Rote Rosen“ die Melodie von „Auld lang syne“, ursprünglich eine schottische Weise aus dem 17. Jahrhundert, genial eingespielt. Wer sich vom harten Beat nicht schrecken lässt, kann in ihrer Aufnahme eine anrührende, unkitschige Verbindung von Lebenswirklichkeit, Traurigkeit und entschlossener Zuversicht entdecken.

Wibke Janssen