Verlorene Ehre – der Irrweg der Familie Sürücü

Am siebten Februar 2005 wurde die Deutsch-Kurdin Hatun Sürücü in Berlin in der Nähe ihrer Wohnung erschossen. In den Mord an der jungen Mutter waren drei ihrer Brüder verwickelt. Der jüngste von ihnen, Ayhan (18), gesteht später vor Gericht ein, seine Schwester umgebracht zu haben, um die „Ordnung“ der Familie wieder herzustellen. Er wird zu neun Jahren Haft verurteilt. Seine Brüder Mutlu und Alpaslan, verdächtigt den Mord gemeinsam mit Ayhan geplant und die Tatwaffe besorgt zu haben, werden zunächst freigesprochen, setzen sich später in die Türkei ab. Sie werden seit 2007 erneut mit internationalem Haftbefehl gesucht.

Warum musste Hatun Sürücü sterben? Die RBB-Reporter Matthias Deiß und Joachim Goll machen sich Jahre später auf eine Spurensuche, rekonstruieren Hatuns Leben, das traditionell muslimisch geprägte Umfeld in Berlin Kreuzberg, in dem sie und ihre Geschwister aufwuchsen. Mehrmals befragen sie Hatun Sürücüs Bruder Ayhan, der mittlerweile seit 6 Jahren inhaftiert ist, treffen den großen Bruder Mutlu in Istanbul und besuchen Verwandte der Familie Sürücü im armen Ostanatolien. Auch die Kronzeugin der Verhandlung machen die beiden Autoren des Films ausfindig. Melek A. muss, seit sie die Brüder Sürücü vor Gericht mit ihrer Aussage belastete, um ihr Leben fürchten, lebt geschützt durch ein Zeugenschutzprogramm. Hatuns beste Freundin, Gülsah, trauert noch immer um Hatun. Sie erinnert sich an die Zeit vor dem Tod der Freundin, an Hatuns Ängste vor ihren Brüdern, die sie bedrohten – lange vor dem Mord. Vergeblich hatte Hatun Schutz gesucht: bei der Polizei, dem Jugendamt.

Warum musste Hatun Sürücü sterben, mitten in Deutschland, in einer pluralistischen, offenen Gesellschaft? Die Dokumentation belegt: Das Leben, das die Familie Sürücü in Deutschland führte, hat mit Deutschland, wie wir es kennen, wenige Berührungspunkte. Es ist ein Leben nach konservierten traditionell patriarchalischen Regeln und Werten, ein Familienleben, in dem die Frauen nichts für sich entscheiden dürfen.

Hatun Sürücü ist 16 Jahre alt, als ihre Eltern beschließen, sie mit einem Cousin in Instanbul zu verheiraten. Doch die Ehe scheitert. Nur ein Jahr später kehrt Hatun zu ihren Eltern zurück. Sie ist schwanger und soll nun ein zurückgezogenes Leben im Haushalt ihrer Eltern führen. Aber das tut die junge Frau nicht: Sie zieht in ein Mutter-Kind-Heim, macht ihren Schulabschluss nach, beginnt eine Lehre als Elektrotechnikerin. Sie geht eine Beziehung mit einem Deutschen ein, legt das Kopftuch ab. Hatun will frei sein, ein selbstbestimmtes Leben führen, ein Leben wie eine deutsche Frau. Das aber ist ein Affront für ihre Familie, besonders die Männer der Familie, ein Angriff auf die „Ehre“ der Familie, die sich auch im Kreuzberger Kiez für das Verhalten der ungehorsamen Tochter/Schwester rechtfertigen muss und dort einen Gesichtsverlust erleidet.

Ayhan Sürücü, Hatuns Bruder, steht ganz unter dem Einfluss seines älteren Bruders Mutlu, der erst während seiner Zeit bei der Bundeswehr zum an Fanatismus grenzenden streng gläubigen Muslim wird. Mutlu befürwortet bei seinem Interview in Istanbul die Steinigung einer Frau, die Unzucht begangen hat, also außerhalb der Ehe mit einem Mann Sex hatte. Zwar lebte die Familie Sürücü mehr als 30 Jahre in Deutschland, doch kulturell kam sie nie in Deutschland an. Ayhan hat, im Glauben, die „Ehre“ der Familie wiederherzustellen, seine Schwester umgebracht. Neben Hatuns Leben ist auch sein Leben zerstört. Die Familie Sürücü, in alle Winde zerstreut, existiert nicht mehr.

Ehrenmorde in Deutschland werden in der Kriminalstatistik nicht gesondert ausgewiesen. Eine im letzten Jahr erschienene erste Studie konnte in den Jahren zwischen 1996 und 2005 78 bekannt gewordene Fälle von Ehrenmord belegen. Das sind rund 12 Ehrenmorde jährlich. Ehrenmorde sind, statistisch gesehen, eine Marginalie in Deutschland, aber sie geschehen immer wieder.

Die Autoren der Studie erkannten bei den Tätern und deren Familien „sehr extreme Konzepte von Ehre, die einhergehen mit der – aus Tätersicht – so empfundenen Notwendigkeit, einen anderen Menschen aus Gründen der Ehre sogar zu töten.“

Brechen Frauen aus den traditionell für sie vorbestimmten Bahnen aus, werden sie auch heute noch Opfer von Gewalt, auch in Deutschland. Dem Begriff der „Ehre“ und der Wiederherstellung der verletzten Familien-Ehre kommen dabei zentrale Bedeutungen zu. Traditionen und Bräuche, die eng mit dem Begriff der Ehre verknüpft sind, sind besonders in patriarchalischen Gesellschaften lebendig.

Der Film ist bei Matthias Film erhältlich: http://schulen.matthias-film.de/product/de/Toleranz-Freundschaft/Verlorene-Ehre–Der-Irrweg-der-Familie-Sueruecue.html