Heidelbeerkuchen für immer -„Lass die Toten ihre Toten begraben“
Dem Mann, von dem hier die Rede ist, war früher manchmal übel geworden. Das geschah stets dann, wenn Abschied gefeiert wurde. Es war so schlimm, dass er diese Momente am liebsten übersprungen hätte. Bereits als Kind hatte er nicht verstanden, wieso man Lebewohl sagen sollte. „Zum letzten Ferientag dürft ihr euch noch etwas wünschen!“, sagte die Mutter zu ihm und seinen Geschwistern. Das war als Trost gedacht, ihm aber fiel nichts ein. In seinem Magen breitete sich eine stechende Leere aus, weil er an den ersten Schultag nach den Sommerferien denken musste. Überhaupt die Sache mit dem Sommer. Andere sagten gegen dessen Ende leichthin: „Der Herbst mit seinen schönen Blätterfarben ist auch nicht übel.“ Ihn aber wurde mulmig im Magen, vor allem, wenn er daran dachte, dass die Blätter bald schon nicht mehr leuchten würden, sondern auf dem Boden lagen, vermoderten. Und dieses Dunkel, alles war dann dunkel.
Entdeckte der Mann in Bäckereien im Sommer noch den ersten Zwetschgenkuchen, ärgerte er sich: „Kann man damit nicht warten, bis die Früchte wirklich reif und süß geworden sind?“ Nicht dass er Zwetschgenkuchen nicht mochte. Er liebte es, auch selber Obst auf den Hefeteig zu schichten, sein Werk sodann dem Ofen anzuvertrauen und das frische Ergebnis zu essen – mehr als nur ein Stück. Nur erzählte ihm dieser Kuchen auch davon, dass der Abschied von der ruhigen, steten, sommerlichen Zeit anstand. Feiern wollte er das nicht. Als Kind hätte er im Sommerurlaub den letzten Tag am liebsten geschwänzt, dieses ständige Noch ein letztes Mal: Die frische Luft noch ein letztes Mal einatmen, noch ein letztes Mal Heidelbeerkuchen essen, noch ein letztes Mal ins Freibad hüpfen, noch ein letztes Mal schwimmen und vom Becken aus den Fichtenwäldern auf den Berghängen ringsum zuwinken. Furchtbar. Also weigerte er sich auf ganz natürliche Weise, beim Abschied fröhlich zu lachen. Er ließ sein Taschentuch in der Tasche. Wenn er gezwungen war, paradiesischen Tagen Adieu zu sagen, schaute er nicht zurück. Den Gastgebern, die er verlassen musste, konnte er nicht ins Auge sehen. Das wurde ihm mitunter als mangelnde Freundlichkeit ausgelegt, bedeutete aber das Gegenteil: Es hätte so wehgetan, dass er es nicht verkraftet hätte. War er nun aber im Winter angelangt, konnte sich das alles in einer anderen Tonart wiederholen. Er saß vor dem schimmernden Weihnachtsbaum, am besten täglich. Selbst wenn dieser längst nadelte, hätte er ihn der Müllabfuhr am liebsten wieder entrissen. Das weihnachtliche Räuchermännchen, ein Hirte, blies die Pfeife häufig noch bis Februar. Und manche Engelsfigur segelte durch den sich kringelnden Qualm.
Der Mann hatte die Wehmut, die ihn seit Kindertagen begleitete, stets als ganz normal empfunden, das Leben war für ihn eben eine stetig abwechselnde Folge von reinem Glück und bitterem Verlust. Und in den schönsten Augenblicken seines Lebens wäre er gern geblieben – für immer! Was war daran unnatürlich? Dass er bleiben wollte, schien nur von seiner intensiven Liebe zum Leben zu erzählen. Nach und nach aber war die Umwelt auf seine Wehmut aufmerksam geworden. Lehrer mit psychologischer Zusatzausbildung, Mediziner und die rapide gewachsene Zahl religiöser Trauerfachleute hatten ihn ins Visier genommen: „Ein besonders schwerer Fall!“ Zu dieser Einschätzung kam die psychologisch geschulte Zunft auch deshalb, weil offenbar ein neues Zeitalter eingeläutet worden war. Es waren Theorien und Praktiken in Umlauf, die das Leben möglichst schmerzlos machen sollten. Selbstverständlich wurde von den Vertretern der sich anbahnenden neuen Epoche der Schmerz nicht geleugnet, nur gelte es ihn zu verwandeln. Ein Satz wurde geboren, der bald als klassisch gelten sollte. Er wurde milde gesprochen, ganz sanft und duldete kurioserweise trotzdem nicht den Hauch von Widerspruch: „Man muss lernen loszulassen.“ Wer das Abschiednehmen trainiere, hieß das, würde es irgendwann sogar genießen können.
Die Wirksamkeit der Theorie, so feuerten sich die Vertreter des neuen Zeitalters an, würde sich an Menschen wie diesem Mann erweisen. Ließe sich sein Fluchtinstinkt in Sachen Abschiednehmen austreiben, wäre das ein symbolischer Triumph: Das neue Zeitalter hätte gesiegt. So wurde der Mann unter die Fittiche von psychologisierenden Lehrern, von Wissenschaftlern und Trauerberatern genommen. Er wollte dagegen auch nichts einwenden! Er hatte ja selbst beschlossen, endlich erwachsen zu werden. Gegen die Forderungen der Allgemeinheit wollte er sich nicht mehr ständig zur Wehr setzen, sondern lieber lernen, wie so viele andere auch gesittet Abschied nehmen zu können. Der Mann belegte viele Kurse, was mit einer nicht ganz unbeträchtlichen finanziellen Investition verbunden war. Bald hatte er Lektion eins gelernt: „Abschiednehmen ist ganz natürlich“, sprach er mit möglichst gleichmäßiger Stimme immer wieder. Die Ich-Botschaft dabei durfte nicht fehlen: „Ich will lernen, endlich richtig loszulassen.“ Er betonte die Silbe los-, indem er sie wie einen Kaugummi dehnte – das war schon recht gekonnt. Inzwischen türmten sich auf seinem Nachttisch sorgsam edierte Trauerratgeber, die über viele glänzende Fotos verfügten. „Es gilt alle Trauerphasen zu durchlaufen“, las er in so gut wie jedem dieser Bände. „So wird der Schmerz nach und nach überwunden.“ Besonderen Wert schienen die Bücher darauf zu legen, beim Abschiednehmen die richtige Reihenfolge der Trauerphasen einzuhalten. „Keine Stufe darf ausgelassen werden!“ Wer das geduldig befolge, dem könne schon bald ein neues Leben winken.
Früher hatte der Mann Beerdigungen oft geschwänzt, nun ließ er kaum noch eine aus, weil sich dort das Abschiednehmen wie sonst nirgendwo trainieren ließ. Na gut, das Kuchenessen nach der Beerdigung – das nahm ihn noch immer mit. Ein Bissen schon konnte ihn an nicht enden wollende Kuchenorgien aus sommerlichen Kinderzeiten erinnern. Dann spürte er in der Magengegend wieder dieses altbekannte Ziehen, die süße Wehmut begann sich auszubreiten. Fast wären ihm die Tränen gekommen, rechtzeitig versuchte er sie zu zügeln: „Weinen bitteschön am Grab! Im Café danach darf man dagegen durchaus auch fröhlich sein“, sagte er sich streng. Beim Trauern sollte schließlich alles seine Ordnung haben. Also versuchte er mitzulachen, wenn in der einen oder anderen Trauergesellschaft bald schon Witze gerissen wurden. Der Trauer ein Ventil zu geben, wusste er inzwischen, war nicht unbedeutend und dazu auch wissenschaftlich abgesichert. Es war als ein Merksatz eingerahmt gewesen in dem von ihm inzwischen erworbenen wissenschaftlichen Standardwerk mit dem Titel: Trauern in allen Einzelheiten. Den Hinweis mit dem Lachen hatte er unter der ausführlich besprochenen Trauerphase II/Kapitel 4/Ziffer C entdeckt. Sein Eifer und die von ihm verfolgte Akribie in der Trauerarbeit befriedigten ihn. Wenn er allerdings noch ein wenig ungelenk ins Lachen der Trauergesellschaft einstimmte, regte sich dezent sein schlechtes Gewissen. Das wissenschaftliche Standardwerk Trauern in allen Einzelheiten hatte er nämlich noch nicht zu Ende durchgearbeitet. Aber es war schließlich auch schwere Kost. Dieses Werk war viel dicker als die anderen Trauerbegleiter mit ihren bunten Fotos, womit der Mann natürlich überhaupt nichts gegen das längst zum wissenschaftlichen Klassiker gewordene Trauerwerk einwenden wollte. Im Gegenteil. Das Problem: „Knapp 500 eng bedruckte Seiten sind kein Pappenstiel.“ Ganz zu schweigen davon, dass es ein logistisches Problem gab, das mehrere Kilo schwere Buch im Bett zu lesen und auf dem Nachttisch einen Ruheplatz dafür zu finden.
Der Mann, der als Kind Sommerurlaube nicht enden und Weihnachtskerzen immer noch einmal anzünden wollte, hatte sich in die neue Zeit passabel eingefügt. Inzwischen hatte das Thema Natürlich trauern selbst in den Medien seinen Siegeszug angetreten. Es wurde nicht mehr nur in Fach-, sondern längst auch schon in Tageszeitungen und Illustrierten diskutiert. In den dort ausgerufenen Trauerforen beteiligte sich der Mann zuweilen mit einem Leserbrief. Er forderte: „Die Trauerriten müssen auch auf andere Abschiede übertragen werden.“ Schließlich bestehe das ganze Leben aus einer Kette von Todesfällen – selbstverständlich übertragen gemeint. Dieses Argument hatte er in einem seiner von ihm belegten Kurse aufgegabelt. Das Leben, führte er in dem Leserbrief weiter aus, zeige sein freundliches Gesicht, wenn man am besten jeden Abschied zeremoniell begehen würde: Umzug, Stellenwechsel, Abschied vom Beruf. Nur der aktuellste Vorschlag aus der modernen Trauerwelt war dem Mann dann nicht ganz geheuer. Aber wer weiß, vermutlich würde er auch das bald ganz natürlich finden. Das Neueste nämlich war, den Abschied auch in nicht weiter geführten Ehen und Partnerschaften zeremoniell zu besiegeln. Worte wie „Bruch, Riss, Katastrophe“ für solche Erfahrungen sollten getilgt werden. Stattdessen würde der Schmerz dank des rituell begangenen Abschieds, so lautete das Versprechen, sich früher oder später total natürlich und beherrschbar anfühlen.
So feierte der Mann Abschied um Abschied. Nur manchmal, wenn er an den nahen Tod der Eltern dachte, brach zuweilen seine alte, fast überwunden geglaubte Liebe zum Leben durch, die sich nicht beschränken ließ. Er fragte sich, ob es ihm gelingen würde, den Abschied von den Eltern samt den Trauerphasen wirklich so ordentlich zu begehen, wie er sich das angeeignet hatte. Den aufkommenden Zweifel wischte er rasch weg und sprach sich stattdessen einen Spitzensatz der neuen Trauerbewegung zu: „Richtig leben heißt nichts anderes als immer wieder zu sterben.“
Dann war es soweit. Sein Vater war tot. Das über Jahre antrainierte Trauerrepertoire des Sohnes geriet in Verwirrung. Dumpfe Panik stieg in ihm auf, es zogen Bilder vor seinem inneren Auge vorbei, wie er als Kind mit seinem Vater im Sommerurlaub Heidelbeerkuchen um Heidelbeerkuchen gegessen hatte. Auf die Frage der Bedienung „Mit Sahne?“ hatte der Vater beim ersten Mal so geantwortet, dass die Frage später kein einziges Mal mehr gestellt zu werden brauchte. An jedem Urlaubstag wiederholte sich das Heidelbeerkuchenmahl, und am nächsten Tag wieder und viele weitere Male. Und zur Weihnachtszeit, erinnerte sich der Sohn, hatte sein Vater ihn gelehrt, ins Räuchermännchen nicht nur eine, sondern am besten gleich mehrere Räucherkerzen zu stecken. Kein kleines, braves, ordentliches Feuerlein entwickelte sich, sondern ein grenzenlos anmutendes Glühen. Die weihnachtliche Figur qualmte so sehr, dass der Bart des Männchens einmal sogar Feuer fing. Das war nun vorbei, sein Vater würde kein Räuchermännchen mehr anzünden. Und Heidelbeerkuchen konnte bestenfalls noch ohne ihn gegessen werden.
Der Sohn versuchte die Erinnerungsbilder, die in seinem Innern kräftig nach Atem suchten, zu ersticken: „Ganz natürlich Abschied nehmen“, sagte er sich immer wieder. „Du wirst es schaffen, halte dich nur an das, was du dir über die Jahre angeeignet hast.“ Der Mann aber fiel wiederholt in das von psychologischen Trauerexperten so genannte alte Muster zurück. Es handelte sich um jenen ihm von Kindheit an bekannten Lebenstrieb, der ihn Abschiede am liebsten schwänzen ließ. Das mühsam Angelernte wiederum wollte der Mann – nicht zuletzt wegen der von ihm investierten Kursgebühren – selbstverständlich nicht aufgeben. Der kindlich-ungezügelte Instinkt früherer Tage aber begann in ihm immer heftiger herum zu hüpfen.
Was tun? Ein letztes Mal wollte er noch Hilfe suchen. Und zwar bei einem, der kein Wissenschaftler oder medizinisch-psychologisch-religiöser Experte zu sein schien. Auch nannte er sich nicht Trauerberater, hatte kein Sprechzimmer. Anders als im modernen Zeitalter üblich war auch, dass er die zu ihm Kommenden nicht Klienten oder Patienten nannte, sondern schlicht und einfach Menschen. Diese eigenartige Beraterfigur, die Jesus hieß, empfing die Ratsuchenden als Gäste, am liebsten bei Tisch, und wenn möglich unter freiem Himmel. Als nun der Mann, dessen Vater gerade gestorben war, den Berater in einem Sommergarten-Café unter ausladenden Kastanienbäumen aufsuchte, schaute der ihn kurz an und sagte: Folge mir nach! (Lk 9,59) Der Mann wusste nicht, ob das über Jahre Angelernte mit einem Mal hinfällig sein sollte. Also antwortete er mit einem Satz, den er vorsichtig, fast unterwürfig aussprach. Mit seiner ureigenen, einst so kraftvollen Stimme hatte diese Bitte nichts zu tun, sie wirkte eher wie ein Zitat aus dem wissenschaftlichen Hauptwerk Trauern in allen Einzelheiten, das er inzwischen fast durchgearbeitet hatte: Herr, erlaube mir, dass ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe. (Lk 9,59) Der Lebensberater unter den Kastanienbäumen lächelte. Und winkte der Bedienung: „Bitte noch zwei Stück Heidelbeerkuchen – wie immer auf meine Rechnung.“
So saßen die beiden sich gegenüber, sagten nichts, schauten nur die Sonnenflecken an, die durch das Kastanienblätterdach hindurch auf die Cafétische gesprungen waren und den einen oder anderen Tanz vollführten. Als Jesus und der Mann sich schließlich daran machten, die Kuchenstücke samt der prächtig steif geschlagenen Sahne zu essen, lächelte Jesus seinen Gast schon wieder an. Endlich sagte er zu ihm: „Was hat man nur aus dir gemacht? Wohin ist deine Liebe, die das Leben feierte? Ich spreche dich davon frei, so leben zu müssen, wie andere es wünschen. Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes!“ (Lk 9,60)
Nicht wie eine Parole, sondern mit einer Art amüsierter Versonnenheit hatte Jesus das zu dem Mann gesprochen. Später dann, als die unter den Kastanienbäumen gesprochenen Worte Jesu den wissenschaftlichen Trauerberatern zu Ohren kamen, schüttelten die den Kopf. Sie ärgerten sich: „Wie unpsychologisch und brutal das von Jesus war! Warum durfte dieser arme Mann seinen Vater nicht begraben? Dabei lehren wir nun schon seit Jahren: Jeder Mensch hat das Recht, alle Trauerphasen auszukosten.“ Der Mann hingegen, dem die Worte Jesu galten, verkündigte das Reich Gottes, wie Jesus es ihm verheißen hatte. Er tat das mit Worten, die er aus den Bildern seiner Kinderzeit gewann: „Das Freibad öffnet wieder“, predigte er zuweilen. Oder: „Die Heidelbeeren sind reif. Weihnachtsbäume nadeln nicht. Und wer sagt: Dein Vater ist tot, der lügt.“ Manchmal aber redete er vom Reich Gottes auch, indem er einfach nur die Worte seines großen Lehrers sprach, der ihm im Sommergarten seine alte Liebe zum Leben wiedergegeben hatte: Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, Taube hören, Tote stehen auf, Armen wird das Evangelium gepredigt, und selig ist, wer sich nicht ärgert an mir. (Lk 7,22.23)
Aus: Georg Magirius, Sein wie die Träumenden. Geschichten vom Aufstehen, Auferstehen und neuen Leben, Evangelische Verlagsanstalt 2007.