
Beim Sterben allein sein
„Frau Pfarrerin kommen Sie bitte schnell! Unsere Oma ist gestorben, und meine Frau ist untröstlich. Ich kann sie überhaupt nicht beruhigen.“ – Dieser Telefonanruf erreichte mich, während ich gerade an meiner Sonntagspredigt arbeite. Also ließ ich alles stehen und liegen und brach zu Familie Meyer auf.
Frau Meyer empfing mich an der Tür, tränenüberströmt und ziemlich verzweifelt.“ Ich mache mir solche Vorwürfe! Wie konnte das nur passieren!“ stieß sie unter Schluchzen hervor. Ihr Mann zuckte nur ratlos mit den Schultern, und auch mir war nicht klar, was sie eigentlich meinte, denn ihre Mutter war schon lange sehr krank und pflegebedürftig. Eigentlich hatten sie schon viele Wochen lang mit dem Sterben rechnen müssen.
Doch so nach und nach brachte sie dann heraus, was sie so quälte. „Immer habe ich am Bett meiner Mutter gewacht. Tag und Nacht bin ich nicht von ihrer Seite gewichen, habe hier auf der Couch geschlafen, um immer bei ihr zu sein. Und jetzt war ich nur mal eine halbe Stunde draußen – und genau da ist sie gestorben. Ich hatte es ihr doch fest versprochen, dass ich sie nicht allein lasse. Das kann ich mir nie verzeihen!“
Wie ein kleines, verzweifeltes Kind klammerte sie sich an mich, während ihre Tränen unaufhörlich flossen. Ich streichelte sie sanft, bis sie sich ein wenig beruhigt hatte. Dann sagte ich: „Ich weiß ja, dass sie mit ihrer Mutter sehr, sehr eng verbunden waren und einander sehr lieb gehabt haben. Und ich glaube, dass es gut war, dass sie hinausgegangen sind. Sie haben ihrer Mutter damit geholfen, dass sie sterben konnte.“
Ungläubig starrte Frau Meyer mich an. „Das verstehe ich nicht. Wie meinen sie das?“ „Ich glaube“, antwortete ich, „ihre Mutter hat gespürt, dass sie sie noch nicht loslassen konnten, und deshalb konnte sie nicht gehen, solange sie an ihrem Bett saßen und ihre Hand hielten. Erst als sie draußen waren, konnte sie friedlich sterben.“ Meinen sie das wirklich, oder sagen sie das nur, um mich zu trösten?“ fragte Frau Meyer immer noch zweifelnd. „Ich habe schon viele Menschen beim Sterben begleitet,“ antwortete ich, „und immer wieder genau diese Erfahrung gemacht: Die Angehörigen waren kurz draußen, und genau den Moment hat der oder die Sterbende genutzt, um zu gehen. Es war gut und richtig so. Sie müssen sich wirklich keine Vorwürfe machen.“ Dankbar schaute Frau Meyer mich an.
Dann sagte sie zögernd: Ich bin sehr traurig, aber irgendwie auch erleichtert. Es war so schwer – ich meine dabei nicht nur die Pflege. Es war so schwer mit anzusehen, wie es Mutter immer schlechter ging und die Schmerzen immer schlimmer wurden und wir gar nichts tun konnten. Wie oft habe ich gedacht: Jetzt stirbt sie und habe mich innerlich verabschiedet, und dann ist es doch weiter gegangen. Das hat so unendlich viel Kraft gekostet. Ich bin froh, dass das jetzt vorbei ist.“ Dabei schaute sie mich unsicher an und fragte: „Aber ist das nicht herzlos, wenn ich so denke?“
“ Nein, “ antwortete ich. „Ich finde das völlig in Ordnung. Sie dürfen erleichtert sein. Ihnen ist eine große Last abgenommen, und ihrer Mutter geht es jetzt gut. Sie hat ihren Frieden und ist geborgen bei Gott- frei von allen Schmerzen und von allem, was ihr das Weiterleben hier so schwer gemacht hätte Der Tod war eine Erlösung für sie. Wie oft hat sie sich in der letzten Zeit gewünscht, dass der liebe Gott sie endlich zu sich nehmen möge. Es ist Gnade, wenn man nach einem so langen erfüllten Leben friedlich einschlafen darf. Es ist alles gut so, wie es geschehen ist.“ Frau Meyer nickte. „Aber es tut trotzdem so weh, “ sagte sie leise.
Jetzt mischte sich Herr Meyer in das Gespräch: Müssen wir nicht den Arzt rufen, damit er den Totenschein ausstellt? Und den Bestatter? Außerdem ist es gleich 9.00 Uhr, da kommt die Schwester von der Diakoniestation. Sie hat uns immer abends bei Mutter geholfen“, setzt er erklärend hinzu.
Gemeinsam überlegten wir die nächsten Schritte: Frau Meyer möchte ihre Mutter zusammen mit der Diakonieschwester waschen und frisch anziehen. „Mutter hat sich gewünscht, in ihrem Lieblingskleid beerdigt zu werden,“ erklärte Frau Meyer, „und diesen Wunsch möchte ich ihr gern erfüllen.“ Dann verabredeten wir, dass der Bestatter erst am nächsten Nachmittag kommen soll. So bleibt genügend Zeit, damit alle Verwandten, die das möchten, noch Abschied nehmen können.
„Und Sie kommen doch morgen auch noch mal?“ sagte Frau Meyer fragend. Ich habe das bei unseren Nachbarn erlebt, als der Opa gestorben ist, da haben Sie noch ein Gebet und einen Segen gesprochen. Das fand ich sehr schön. Wenn der Sarg geschlossen und der Verstorbene aus dem Haus getragen wird, ist das ein besonders schmerzlicher Moment. Da ist es gut, wenn das nicht schweigend geschieht, sondern mit einem Gebet begleitet wird. So spüren wir, dass Gott uns auch in unserer Trauer nicht allein lässt.
Und das ist doch auch so üblich, oder?“setzt Frau Meyer hinzu. „Ja“, bestätigte ich, „hier bei uns gibt es noch das schöne Ritual der Aussegnung. Ich werde dazu morgen wiederkommen.“
„Danke,“ sagte Frau Meyer herzlich. Sie haben mir sehr geholfen.“
von Heinke Geiter