Abschied im Altersheim

„Du musst noch mal los. Das Altersheim hat angerufen. Im 2. Stock liegt eine Frau im Sterben.“ Mit diesen Worten empfing mich meine kleine Tochter, kaum dass ich  das Haus betreten hatte.
Als ich wieder im Auto saß, ging mir durch den Kopf: „Für meine Kinder gehören Tod und Sterben, Trauer und Abschied ganz selbstverständlich zum Alltag, erleben sie doch ständig, dass ich zu Sterbenden gerufen werde, dass Trauernde zu uns ins Haus kommen oder dass ich eine Beerdigung halten muss, während das für so viele andere immer noch ein Tabuthema ist.“
Im Altersheim treffe ich auf dem Flur die Angehörigen der Sterbenden, zwei Töchter und einen Schwiegersohn im Gespräch mit einer Pflegerin. „Wir sind zu spät gekommen, “ empfängt mich die eine Tochter. „Unsere Mutter ist nicht mehr bei Besinnung.“ Ehe ich etwas antworten kann, sagt die andere Tochter zu der Pflegerin: „Rufen sie uns an, wenn alles vorbei ist. Wir gehen dann mal.“ Im ersten Moment bin ich sprachlos. „Meine Güte, wie herzlos!“ schießt es mir durch den Kopf, aber dann sehe ich ihre verstörten Gesichter, spüre ihre Bestürzung, ihre Angst und Hilflosigkeit. Sie wollen gehen, fliehen vor einer Situation, der sie sich nicht gewachsen fühlen.
„Wollen wir nicht noch einmal gemeinsam hineingehen?“ schlage ich vor. Ich möchte noch ein Gebet sprechen und ihrer Mutter einen Segen mit auf den Weg geben. Und vielleicht möchten Sie ihrer Mutter ja auch noch etwas zum Abschied sagen?“ Weil die Drei noch zögern, setze ich hinzu: „Aus vielen Erfahrungen wissen wir, dass das Gehör als letztes Sinnesorgan seine Funktion einstellt. Menschen, die nicht mehr ansprechbar zu sein scheinen,   können oft noch alles hören, aber nicht mehr darauf reagieren. Ihre Mutter spürt es sicherlich, wenn sie da sind, sie streicheln oder ihre Hand halten, und es tut ihr gut.

„Wir müssen auch noch darüber reden, was dann mit dem Haus werden soll, wenn Mutter nicht mehr lebt,“ wirft der Schwiegersohn ein. „Aber doch nicht jetzt, und nicht in Mutters Sterbezimmer!“ entgegnet seine Frau. „Du hast doch gehört, was die Pfarrerin eben gesagt hat: Mutter kriegt alles mit! Stell dir doch mal vor, wie das ist: Du liegst da, und über dich wird geredet, als ob du schon tot wärest.  Deine Kinder streiten sich um das Erbe  und du musst hilflos zuhören und kannst nichts dagegen machen!“ „Du hast ja Recht“, lenkt ihr Mann ein und ergänzt in meine Richtung gewandt: „Sagen sie uns einfach, was wir tun sollen!“

Im Sterbezimmer setzt sich die eine Tochter gleich ans Bett und nimmt die Hand ihrer Mutter. „Woher weiß ich denn, ob sie das wirklich möchte?“ fragt sie zögernd. „Legen sie doch ihre Hand unter die Hand ihrer Mutter, Dann kann ihre Mutter ihre Hand jederzeit wegziehen und fühlt sich von ihnen nicht eingeengt, “ schlage ich vor.

„Vielleicht mögen Sie ihrer Mutter jetzt noch einmal danke sagen. Es gibt doch sicher so viel, was ihre Mutter für sie getan hat. Oder sie möchten noch um Verzeihung bitten, eine Streit begraben, oder einfach sagen, wie lieb sie ihre Mutter haben.“
Alle schweigen und hängen ihren Gedanken nach. Ich zünde die auf dem Nachttisch stehende Kerze an und lege der Sterbenden ein Kreuz in die Hand, das sie sofort umklammert. Die eine Tochter streichelt behutsam den Arm ihrer Mutter. Dann falte ich die Hände und bete: „Gott, unser Vater, ein lange Leben geht zu Ende. Wir danken dir für alles Gute, das Du im Leben von Frau Müller getan hast, und für alle Liebe und Fürsorge, die sie ihrer Familie geschenkt hat…“ An dieser Stelle beginnt  die eine Tochter zu erzählen von Situationen, in denen die Mutter ihr geholfen, sie vor Unglück bewahrt und sie weiter gebracht hat. Die andere Tochter und der Schwiegersohn  ergänzen mit eigenen Erlebnissen und danken ihrer Mutter für ihr Verständnis, ihre Liebe und Geduld.
Nach einer längeren Pause fahre ich fort „Gott, in deinen Hände legen wir, was uns nicht gelungen ist und wo wir an einander schuldig geworden sind. Vergib uns, und lass uns auch einander  vergeben, damit wir in Frieden Abschied nehmen können.“ Unter Tränen bittet die ältere Tochter, dass die Mutter ihr verzeihen möge. Sie habe so oft Streit begonnen und die Mutter mit ihren heftigen Worten verletzt. „Wie gut, dass ich ihr das noch sagen konnte. Jetzt steht nichts mehr zwischen uns,“ sagt sie und küsst ihre Mutter zärtlich auf die Stirn.
Während wie dann gemeinsam das Vaterunser beten, verändert sich plötzlich die Gesichtsfarbe der Sterbenden, und sie bewegt die Lippen, als wolle sie die Worte mitsprechen. .wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.  Es ist ein Moment des tiefsten Friedens. Später sagt die ältere Tochter: „Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, und halten sie mich nicht für überspannt, aber ich hatte das Gefühl, dass sich da schon die Tür zum Himmel aufgetan hat.“
Wieder schweigen wir, nur das rasselnde Atmen der Sterbenden ist zu hören. „Das klingt, als ob Mutter wahnsinnige Schmerzen hat, kann man da nichts tun?“ fragt die jüngere Tochter. Ich erkläre, dass Frau Müller den Schleim nicht mehr abhusten kann, „Das klingt für uns zwar beängstigend, aber verursacht keine Schmerzen. Ständiges Absaugen des Schleims würde Frau M nur unnötig quälen.“
Als der Atem in Schnappatmung übergeht, spreche ich ein Aussegnungswort und bitte Gott: „Nimm Frau Müller zu Dir, lass sie geborgen sein in Deiner Liebe und schenke ihr Deinen ewigen Frieden.“ Dabei schlage ich das Kreuz über der Sterbenden.
Immer häufiger setzt der Atem aus, bis er ganz aufhört. Frau M ist gestorben.
Die Töchter nehmen sich in den Arm und lassen ihre Tränen fließen. Dankbar nehmen sie die von mir gereichten Taschentücher an. Doch als sie sich für ihre Tränen entschuldigen wollen, wehre ich ab. „Nur wer nichts liebt, kommt ohne Tränen aus,“ sage ich. „Tränen sind der Spiegel unserer Liebe und unserer Trauer. Und ich habe doch gesehen, wie sehr sie ihre Mutter lieben. Da ist es gut, wenn sie weinen können. Tränen müssen fließen, damit sich etwas löst in uns und wir nicht hart oder verbittert werden.“
Plötzlich drängt der Schwiegersohn: „Wir müssen doch etwas tun, das Personal rufen, einen Arzt holen, den Bestatter benachrichtigen, den Tod melden.“
„Wie geht es denn jetzt weiter?“ fragt nun auch die jüngere Tochter. „Lassen sie sich reichlich Zeit für den Abschied,“ antworte ich. „Diese Zeit kann man später nicht mehr nachholen. Sagen Sie der Pflegerin Bescheid. Aber es reich völlig, wenn der Arzt erst morgen früh kommt und der Bestatter auch dann erst benachrichtigt wird. Vielleicht gibt es ja noch andere Familienmitglieder, die am Totenbett Abschied nehmen wollen. Geben sie ihnen die Möglichkeit! Sie haben ja selbst gesehen, wie wichtig das ist.“ „Stimmt,“ antwortet die ältere Tochter. Wir hätten etwas unendlich Wichtiges und Schönes verpasst, wenn wir einfach gegangen wären. Ich werde diesen Abschied nie vergessen und wünsche mir, dass meine Kinder mich auch mal so verabschieden. Danke, ohne Sie hätte mir der Mut gefehlt, und hinterher hätte ich es immer bedauert.“ Auch die beiden anderen stimmen dem zu und sind unendlich dankbar mit diesem Abschied etwas ganz Besonderes und ihr Leben Prägendes erlebt zu haben.

von Heinke Geiter