von Heinke Geiter
"Du musst noch mal los. Das Altersheim hat angerufen. Im 2. Stock liegt eine Frau im Sterben." Mit diesen Worten empfing mich meine kleine Tochter, kaum dass ich das Haus betreten hatte.
Als ich wieder im Auto saĂ, ging mir durch den Kopf: "FĂŒr meine Kinder gehören Tod und Sterben, Trauer und Abschied ganz selbstverstĂ€ndlich zum Alltag, erleben sie doch stĂ€ndig, dass ich zu Sterbenden gerufen werde, dass Trauernde zu uns ins Haus kommen oder dass ich eine Beerdigung halten muss, wĂ€hrend das fĂŒr so viele andere immer noch ein Tabuthema ist."
Im Altersheim treffe ich auf dem Flur die Angehörigen der Sterbenden, zwei Töchter und einen Schwiegersohn im GesprĂ€ch mit einer Pflegerin. "Wir sind zu spĂ€t gekommen, " empfĂ€ngt mich die eine Tochter. "Unsere Mutter ist nicht mehr bei Besinnung." Ehe ich etwas antworten kann, sagt die andere Tochter zu der Pflegerin: "Rufen sie uns an, wenn alles vorbei ist. Wir gehen dann mal." Im ersten Moment bin ich sprachlos. "Meine GĂŒte, wie herzlos!" schieĂt es mir durch den Kopf, aber dann sehe ich ihre verstörten Gesichter, spĂŒre ihre BestĂŒrzung, ihre Angst und Hilflosigkeit. Sie wollen gehen, fliehen vor einer Situation, der sie sich nicht gewachsen fĂŒhlen.
"Wollen wir nicht noch einmal gemeinsam hineingehen?" schlage ich vor. Ich möchte noch ein Gebet sprechen und ihrer Mutter einen Segen mit auf den Weg geben. Und vielleicht möchten Sie ihrer Mutter ja auch noch etwas zum Abschied sagen?" Weil die Drei noch zögern, setze ich hinzu: "Aus vielen Erfahrungen wissen wir, dass das Gehör als letztes Sinnesorgan seine Funktion einstellt. Menschen, die nicht mehr ansprechbar zu sein scheinen,  können oft noch alles hören, aber nicht mehr darauf reagieren. Ihre Mutter spĂŒrt es sicherlich, wenn sie da sind, sie streicheln oder ihre Hand halten, und es tut ihr gut.
"Wir mĂŒssen auch noch darĂŒber reden, was dann mit dem Haus werden soll, wenn Mutter nicht mehr lebt," wirft der Schwiegersohn ein. "Aber doch nicht jetzt, und nicht in Mutters Sterbezimmer!" entgegnet seine Frau. "Du hast doch gehört, was die Pfarrerin eben gesagt hat: Mutter kriegt alles mit! Stell dir doch mal vor, wie das ist: Du liegst da, und ĂŒber dich wird geredet, als ob du schon tot wĂ€rest. Deine Kinder streiten sich um das Erbe und du musst hilflos zuhören und kannst nichts dagegen machen!" "Du hast ja Recht", lenkt ihr Mann ein und ergĂ€nzt in meine Richtung gewandt: "Sagen sie uns einfach, was wir tun sollen!"
Im Sterbezimmer setzt sich die eine Tochter gleich ans Bett und nimmt die Hand ihrer Mutter. "Woher weiĂ ich denn, ob sie das wirklich möchte?" fragt sie zögernd. "Legen sie doch ihre Hand unter die Hand ihrer Mutter, Dann kann ihre Mutter ihre Hand jederzeit wegziehen und fĂŒhlt sich von ihnen nicht eingeengt, " schlage ich vor.
"Vielleicht mögen Sie ihrer Mutter jetzt noch einmal danke sagen. Es gibt doch sicher so viel, was ihre Mutter fĂŒr sie getan hat. Oder sie möchten noch um Verzeihung bitten, eine Streit begraben, oder einfach sagen, wie lieb sie ihre Mutter haben."
Alle schweigen und hĂ€ngen ihren Gedanken nach. Ich zĂŒnde die auf dem Nachttisch stehende Kerze an und lege der Sterbenden ein Kreuz in die Hand, das sie sofort umklammert. Die eine Tochter streichelt behutsam den Arm ihrer Mutter. Dann falte ich die HĂ€nde und bete: "Gott, unser Vater, ein lange Leben geht zu Ende. Wir danken dir fĂŒr alles Gute, das Du im Leben von Frau MĂŒller getan hast, und fĂŒr alle Liebe und FĂŒrsorge, die sie ihrer Familie geschenkt hat..." An dieser Stelle beginnt die eine Tochter zu erzĂ€hlen von Situationen, in denen die Mutter ihr geholfen, sie vor UnglĂŒck bewahrt und sie weiter gebracht hat. Die andere Tochter und der Schwiegersohn ergĂ€nzen mit eigenen Erlebnissen und danken ihrer Mutter fĂŒr ihr VerstĂ€ndnis, ihre Liebe und Geduld.
Nach einer lĂ€ngeren Pause fahre ich fort "Gott, in deinen HĂ€nde legen wir, was uns nicht gelungen ist und wo wir an einander schuldig geworden sind. Vergib uns, und lass uns auch einander vergeben, damit wir in Frieden Abschied nehmen können." Unter TrĂ€nen bittet die Ă€ltere Tochter, dass die Mutter ihr verzeihen möge. Sie habe so oft Streit begonnen und die Mutter mit ihren heftigen Worten verletzt. "Wie gut, dass ich ihr das noch sagen konnte. Jetzt steht nichts mehr zwischen uns," sagt sie und kĂŒsst ihre Mutter zĂ€rtlich auf die Stirn.
WĂ€hrend wie dann gemeinsam das Vaterunser beten, verĂ€ndert sich plötzlich die Gesichtsfarbe der Sterbenden, und sie bewegt die Lippen, als wolle sie die Worte mitsprechen. .wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Es ist ein Moment des tiefsten Friedens. SpĂ€ter sagt die Ă€ltere Tochter: "Ich weiĂ nicht, wie ich es ausdrĂŒcken soll, und halten sie mich nicht fĂŒr ĂŒberspannt, aber ich hatte das GefĂŒhl, dass sich da schon die TĂŒr zum Himmel aufgetan hat."
Wieder schweigen wir, nur das rasselnde Atmen der Sterbenden ist zu hören. "Das klingt, als ob Mutter wahnsinnige Schmerzen hat, kann man da nichts tun?" fragt die jĂŒngere Tochter. Ich erklĂ€re, dass Frau MĂŒller den Schleim nicht mehr abhusten kann, "Das klingt fĂŒr uns zwar beĂ€ngstigend, aber verursacht keine Schmerzen. StĂ€ndiges Absaugen des Schleims wĂŒrde Frau M nur unnötig quĂ€len."
Als der Atem in Schnappatmung ĂŒbergeht, spreche ich ein Aussegnungswort und bitte Gott: "Nimm Frau MĂŒller zu Dir, lass sie geborgen sein in Deiner Liebe und schenke ihr Deinen ewigen Frieden." Dabei schlage ich das Kreuz ĂŒber der Sterbenden.
Immer hÀufiger setzt der Atem aus, bis er ganz aufhört. Frau M ist gestorben.
Die Töchter nehmen sich in den Arm und lassen ihre TrĂ€nen flieĂen. Dankbar nehmen sie die von mir gereichten TaschentĂŒcher an. Doch als sie sich fĂŒr ihre TrĂ€nen entschuldigen wollen, wehre ich ab. "Nur wer nichts liebt, kommt ohne TrĂ€nen aus," sage ich. "TrĂ€nen sind der Spiegel unserer Liebe und unserer Trauer. Und ich habe doch gesehen, wie sehr sie ihre Mutter lieben. Da ist es gut, wenn sie weinen können. TrĂ€nen mĂŒssen flieĂen, damit sich etwas löst in uns und wir nicht hart oder verbittert werden."
Plötzlich drĂ€ngt der Schwiegersohn: "Wir mĂŒssen doch etwas tun, das Personal rufen, einen Arzt holen, den Bestatter benachrichtigen, den Tod melden."
"Wie geht es denn jetzt weiter?" fragt nun auch die jĂŒngere Tochter. "Lassen sie sich reichlich Zeit fĂŒr den Abschied," antworte ich. "Diese Zeit kann man spĂ€ter nicht mehr nachholen. Sagen Sie der Pflegerin Bescheid. Aber es reich völlig, wenn der Arzt erst morgen frĂŒh kommt und der Bestatter auch dann erst benachrichtigt wird. Vielleicht gibt es ja noch andere Familienmitglieder, die am Totenbett Abschied nehmen wollen. Geben sie ihnen die Möglichkeit! Sie haben ja selbst gesehen, wie wichtig das ist." "Stimmt," antwortet die Ă€ltere Tochter. Wir hĂ€tten etwas unendlich Wichtiges und Schönes verpasst, wenn wir einfach gegangen wĂ€ren. Ich werde diesen Abschied nie vergessen und wĂŒnsche mir, dass meine Kinder mich auch mal so verabschieden. Danke, ohne Sie hĂ€tte mir der Mut gefehlt, und hinterher hĂ€tte ich es immer bedauert." Auch die beiden anderen stimmen dem zu und sind unendlich dankbar mit diesem Abschied etwas ganz Besonderes und ihr Leben PrĂ€gendes erlebt zu haben.