Hans Martin Gutmann, Mit den Toten leben – eine evangelische Perspektive
2. Aufl. 2011.
Tote sind tot; wir können nichts mehr für sie tun und sollen sie darum in Frieden lassen? Hans-Martin Gutmann, evangelischer Theologieprofessor an der Universität Hamburg, sieht das etwas anders: Zwar hält auch er daran fest, dass durch den Tod ein Abbruch der bisherigen Beziehungen zwischen den Weiterlebenden und dem/der Verstorbenen erfolgt, der nicht überspielt werden kann. Aber nicht nur die Überlebenden müssen lernen, mit der neuen Situation zu leben – auch die Toten, so Gutmanns These, müssen erst „lernen, dass sie tot sind, und sie sollen für sich die Verheißung annehmen, dass sie auferstehen werden“ (214). Dazu ist es hilfreich, sie in die kirchlichen Rituale der Verabschiedung nicht als Abwesende, sondern als noch Anwesende mit einzubeziehen und auf Versöhnung hinzuwirken, damit ein Abschied für die Lebenden wie für den Verstorbenen leichter wird.
Im nüchternen Stil eines wissenschaftlichen Gesprächs legt Gutmann dar, wie er zu dieser Haltung kommt. Ein Kernpunkt in seiner Argumentation besteht dabei in einer sich an den Kieler Philosophen Hermann Schmitz anlehnenden theologischen Betrachtung zum Wesen von Zeit und Endlichkeit: Unsere Zeit ist strukturiert durch einen Strom, der von der Zukunft in die Vergangenheit führt: Momente aus der Zukunft brechen in unsere Gegenwart ein und geben unserem Leben seine individuelle Prägung. Als Christen, so Gutmann weiter, lassen wir unser Leben aber nicht von allen möglichen Ereignissen bestimmen, die aus der Zukunft auf unsere Gegenwart einströmen, sondern orientieren uns an Gott, dessen Kommen das Ende aller Zeit bedeutet. In dieser Welt sind die Toten von uns Lebenden getrennt, weil wir in unterschiedlicher Weise von den Ereignissen betroffen werden, die aus der Zukunft in die Gegenwart strömen. Wo aber das Kommen Gottes zum alles beherrschenden Ereignis der Zukunft wird, entfällt diese Trennung als absolute Barriere – das Kommen Gottes bringt für die, die am Leib Christi teilhaben, eine gemeinsame Zukunft, bringt die Auferstehung der Toten zum Leben in seinem Reich. Insofern ist gerade die Kirche als Gemeinschaft derer, die auf Gottes Kommen hoffen, der Raum, in dem ein – in Nähe und Distanz sorgfältig auszubalancierendes – Leben mit den Toten möglich ist. Gutmann zeigt, dass die Kirche in ihrem Umgang mit den Toten Formen bietet, in denen ein Austausch zwischen den Lebenden und den Toten möglich ist; diese Formen gilt es bewusst wahrzunehmen, zu nutzen und zu verstärken.
Auch mit Gutmanns Ausführungen bleibt es Hinterbliebenen nicht erspart, den langen Weg des Abschieds und der Suche nach einem lebenswerten Alltag in Abwesenheit des verstorbenen Menschen zu gehen. Aber Gutmanns Ausführungen tragen dazu bei, der Verdrängung des Todes in unserem Leben entgegen zu wirken und dazu, dass z.B. das Sprechen mit dem/der Verstorbenen am Grab nicht länger als Zeichen von Aberglauben oder mangelndem Realitätsbewusstsein abgetan wird. Gutmanns Argumentationsweg über zeitphilosophische und phänomenologische Analysen mag nicht jedem einleuchten; ich vermute, dass es auch andere Wege mit dem gleichen Ziel geben könnte (z.B. über die subjektivitätstheoretische Frage danach, ob menschliche Identität und Präsenz nicht auch an den Vorstellungen hängt, die andere von einem Menschen haben). Das Ziel von Gutmanns Plädoyer, eine neue Balance zwischen Nähe und Distanz zu den Toten herzustellen, ist jedenfalls zu begrüßen. Die eingestreuten Meditationen, die exemplarisch dargestellte Bestattungspredigt und die Ausführungen des letzten Kapitels zur kirchlichen Praxis in Bestattung und Trauerbegleitung machen das Buch auch für jene Praktiker interessant, die sich für grundsätzliche systematisch-theologische Erwägungen nicht ausreichend Zeit nehmen können oder wollen.
Eike Kohler
Hans Martin Gutmann, Mit den Toten leben – eine evangelische Perspektive, 2. Aufl. 2011.
ISBN: 978-3938718131