Heinz Rüegger, Sterben in Würde?
Nachdenken über ein diffenziertes Würdeverständnis
Die Würde des Menschen ist ein Grundwert unserer Gesellschaft, ohne dessen Respektierung kein menschliches Zusammenleben möglich ist. In den gegenwärtigen Diskussionen und Stellungnahmen zu Fragen des Sterbens wird deutlich, dass sich ein unreflektiertes und defizitäres Würdeverständnis ausbreitet, das den zentralen Gehalt der Menschenwürde nicht mehr gerecht wird. Leidtragende sind vor allem Kranke, Behinderte, Menschen, die auf Pflege angewiesen sind und Sterbende.
Wesentliche Probleme bestehen nach Ansicht des Autors darin, dass die Leiden eines Menschen und der Verlust seiner Autonomie in gesellschaftlichen Diskussionen als „entwürdigend“ angesehen werden. Das Leben eines Menschen mit einer schweren, medizinisch nicht überwindbaren Krankheit wird oft als sinnlos empfunden, weil es seine Würde beeinträchtigt oder zerstört. So gesehen würde das bedeuten: Die Würde eines Menschen stellt eine empirische Qualität seiner Befindlichkeit dar. Sie wird beeinträchtigt durch starke Schmerzen, körperliche und geistige Behinderungen, Abhängigkeit von fremder Hilfe, Verlust der Selbstkontrolle und der Fähigkeit über sich selbst zu bestimmen. Würde so verstanden bedeutet: Sie kommt einem Menschen dadurch zu, dass er gesund, körperlich und intellektuell leistungsfähig und unabhängig ist und sein Leben autonom gestalten kann. Die Folge dieser Sichtweise ist, dass Würde einem nicht grundsätzlich zukommt, sondern das Resultat einer Reihe von Fähigkeiten, Eigenschaften und Qualitäten ist.
Anschaulich und gut verständlich gibt der Autor einen Überblick über verschiedene Verstehensweisen der Menschenwürde und macht deutlich, dass es notwendig ist, den Würdebegriff zu differenzieren. Die Idee der Menschenwürde wurde im Grunde schon immer unterschiedlich verstanden. Es gibt aber Grundlinien, die in der abendländischen Geschichte fast immer miteinander verbunden wurden; wenn auch verschieden interpretiert und fundiert. Sie wurde als Seinsbestimmung verstanden – die dem Menschen als solchem kraft seines Menschsein zukommt, unabhängig seines Tun und den gesellschaftlichen Verhältnissen in denen er lebt und als Gestaltungsauftrag – die Würde hängt von seiner Lebensweise und Umgangsformen ab.
Die christliche Theologie vertritt die Ansicht, dass dem Menschen aufgrund seines Wesens, das ihn von anderen Kreaturen unterscheidet Würde zukommt. Dies wird mit der Gottebenbildlichkeit begründet. In diesem Sinne ist der Würdebegriff eine formale Beschreibung des Menschen. Sie ist keine menschliche Eigenschaft, sondern kommt ihm dadurch zu, dass Gott den Menschen in besonderer Weise zu seinem Partner erwählt hat. In dieser Zuwendung Gottes zum Menschen wird der Mensch als Person konstituiert. Die Würde eines Menschen kann daher nicht empirisch nachgewiesen werden, sie muss geglaubt und anerkannt werden. Mit Beginn der Neuzeit wurde die Würde in gesellschaftlichen Diskussionen immer weniger auf seine Gottebenbildlichkeit und Mittelpunktstellung im Weltall zurückgeführt, sondern auf seine Vernunft und Autonomie. Diese Begründung ist bis heute ein wirksames Motiv des Würdeverständnisses. Neuere Diskussionen um das Lebensrecht behinderter Menschen verdeutlichen, wie problematisch es ist, die Menschenwürde an das Vorhandensein gewisser Qualitäten, etwa der Fähigkeit zu Denken oder autonomes Handeln zu binden.
Der Mythos vom würdigen Tod wird vom Autor überzeugend entmythologisiert. Wer ein würdiges Sterben wünsche, meine in der Regel ein Sterben ohne allzu große Schmerzen, bei einigermaßen klarem Geist und ungetrübtem Bewusstsein. Damit sei eigentlich ein friedliches Sterben gemeint. Will man im Zusammenhang von Sterben von Würde reden, scheint dies nach Ansicht des Autors vor allem dann sinnvoll, wenn danach gefragt wird, wie Menschen aus dem Umfeld des Sterbenden – Angehörige und Betreuende – diesen auf dem letzten Wegstück seines Lebens würdig begleiten können, sodass aus einer Sterbehilfe eine Sterbebegleitung wird. Dieses Buch ist meines Erachtens sehr empfehlenswert für alle, die in politischen und beruflichen Aufgaben im Bereich des gesundheits- und Sozialwesens tätig sind. Auf etwa achtzig Seiten schildert der Autor knapp, präzise und gut recherchiert seine Bedenken zur gegenwärtigen Verwendung des Würdebegriffs.
Carmen Berger-Zell
Heinz Rüegger, Sterben in Würde? Nachdenken über ein differenziertes Würdeverständnis, Zürich 2003.
ISBN: 3-85827-145-4