Predigt zu „Oskar und die Dame in Rosa“

Liebe Gemeinde,
ich habe Ihnen heute ein Buch mitgebracht. Vielleicht kennen es einige von Ihnen, es heißt „Oskar und die Dame in Rosa.“ Oskar ist ein kleiner Junge, er ist 10 Jahre alt – und schreibt Briefe an Gott. Aber – am besten ist es sicher, er stellt sich Ihnen selber vor:
„Lieber Gott,
ich heiße Oskar, ich bin zehn Jahre alt, und habe die Katze, den Hund und das Haus angezündet (ich glaube ich habe sogar die Goldfische gegrillt), und das ist der erste Brief, den ich Dir schicke, weil ich bis jetzt wegen der Schule nicht dazu gekommen bin.
Ich sag’s Dir lieber gleich: Ich hasse das Schreiben. Muss mich wirklich dazu zwingen. Weil schreiben wie Lametta ist, Firlefanz, Schmus, Kokolores und so weiter. Schreiben ist nichts anderes als Schwindeln mit Schnörkeln drum herum. Erwachsenen kram.
Der Beweis? Na, nimm den Anfang von meinem Brief: „Ich heiße Oskar, ich bin zehn Jahre alt, und habe die Katze, den Hund und das Haus angezündet (ich glaube ich habe sogar die Goldfische gegrillt), und das ist der erste Brief, den ich Dir schicke, weil ich bis jetzt wegen der Schule nicht dazu gekommen bin.“
Bloß, wenn ich so was schreibe, reiße ich mich nur selber rein, dann wirst Du Dich wohl kaum für mich interessieren. Wo ich doch Dein Interesse nötig habe.“ (S. 9/10)

So weit Oskars erster Brief an Gott. Oskar weiß, dass er nicht mehr lange leben wird. Er hat Krebs. Er weiß das, die Ärzte wissen das, seine Eltern wissen das, aber keiner traut sich richtig, mit ihm darüber zu reden. Außer Oma Rosa. Das ist eine alte Dame, die Oskar im Krankenhaus besucht. Oma Rosa ist die Einzige, die wirklich ehrlich zu Oskar ist.
Aber auch das erzählt er am besten selber:
„Warum willst du, dass man es dir sagt, Oskar, wo du es doch weißt!“
Uff, sie hat zugehört.
„Ich habe den Eindruck, Oma Rosa, dass man mit Krankenhaus was ganz anderes meint, als es in Wirklichkeit ist. Man tut immer so, als käme man nur in ein Kranken-haus, um gesund zu werden. Dabei kommt man auch rein um zu sterben.“
„Da hast du recht, Oskar. Und ich glaube, dass wir beim Leben den gleichen Fehler machen. Wir vergessen, dass das Leben zerbrechlich ist, verletzlich und vergänglich, und tun so, als wären wir unsterblich.“
„Meine Operation ist schiefgegangen, was, Oma Rosa?“
Oma Rosa antwortet nicht. Das war ihre Art, ja zu sagen. Als sie sicher war, dass ich verstanden hatte, kam sie näher und bat mich flehend:
„Ich hab dir aber nichts gesagt, klar? Schwörst du es mir?“
„Schon geschworen.“ (S. 18 – 19)

Und dann schlägt Oma Rosa Oskar vor, er könne doch an den lieben Gott schreiben. Oskar will zuerst nicht, weil er ja auch nicht an den Weihnachtsmann glaubt, sagt er. Aber Oma Rosa überzeugt ihn davon, dass Gott ganz anders ist als der Weih-nachtsmann. Und dass es sich lohnt, ihm zu schreiben. Oma Rosa sagt: „Vertrau ihm deine Gedanken an. Gedanken, die man nicht ausspricht, machen schwer. Das sind Gedanken, die sich festhaken, dich belasten und dich erstarren lassen, Gedanken, die den Platz wegnehmen für neue Ideen und in dir verfaulen. Du wirst zu einer Müll-halde voller alter Gedanken, die zu stinken anfangen, wenn du sie nicht aussprichst.“
Oskar beschließt also, Gott Briefe zu schreiben. Und das tut er, er erzählt von sei-nem Leben im Krankenhaus, von lustigen Erlebnissen, aber vor allem auch von dem vielen traurigen, was dort passiert. Und immer wieder von Oma Rosa. Eigentlich darf sie nur zweimal in der Woche kommen, das sagen die Krankenhausvorschriften. Für Oskar ist das ganz schlimm, und so bettelt und bittet er um die Erlaubnis, dass Oma Rosa ihn jeden Tag besucht. Und endlich sagt sie ihm:
„Es ist abgesprochen. Ich habe die Erlaubnis. Zwölf Tage lang darf ich dich jeden Tag besuchen.“
„Nur mich und niemand anderen?“
„Nur dich und sonst niemand, Oskar. Zwölf Tage lang.“
Und da, ich weiß nicht, was mich da geritten hat, sind mir wieder die Tränen gekom-men, dass es mich nur so schüttelte. Natürlich ist mir klar, dass Jungs nicht weinen dürfen, und schon gar nicht ich mit meinem Eierkopf, da ich ja weder wie ein Junge noch wie ein Mädchen aussehe, sondern eher wie ein Marsmensch. Keine Chance. Ich konnte nicht aufhören.“ (S. 36/37)

Für die letzte Zeit, die Oskar zu leben hat, treffen er und Oma Rosa eine Abma-chung: Oskar wird jeden Tag so leben, als sei dieser zehn Tag lang. Er durchlebt seine Jugend, er heiratet und wird älter. Am neunten Tag, also mit 90 hat Oskar ein ganz besonderes Erlebnis:
„Lieber Gott,
vielen Dank, dass Du gekommen bist.
Du hast den richtigen Augenblick erwischt, denn es ging mir gar nicht gut. Vielleicht warst Du ja auch eingeschnappt wegen meinem Brief von gestern.
Heute beim Aufwachen ist mir klargeworden, dass ich nun neunzig bin, und ich habe den Kopf zum Fenster gedreht, um den Schnee zu sehen.
Und da habe ich geahnt, dass Du kommen würdest. Es war früh am Morgen. Ich war ganz allein auf der Welt. Es war so früh, dass die Vögel noch geschlafen haben, dass sogar die Nachtschwester, Madame Ducru, eingenickt war -, und Du hast ver-sucht, die Morgendämmerung zu fabrizieren. Es ist Dir schwergefallen, aber Du hast Dich ins Zeug gelegt. Der Himmel wurde fahl. Du hast die Luft ganz weiß gepustet, dann grau, dann blau, Du hast die Nacht vertreiben und die Welt zum Leben erweckt. Du hast nicht aufgegeben. Da habe ich den Unterschied zwischen Dir und uns ver-standen: Du bist ein fleißiger Junge, der nie müde wird! Immer bei der Arbeit. Und da ist der Tag! Und da ist die Nacht! Und da ist der Frühling! Und da ist der Winter! Und da ist Peggy Blue! Und da ist Oskar! Und a ist Oma Rosa! Was für eine Kraft.
Ich habe gespürt, dass Du da warst. Dass Du mir Dein Geheimnis verraten hast: Schau jeden Tag auf diese Welt, als wäre es das erste Mal.
Also habe ich Deinen Rat befolgt und mich mächtig angestrengt. Zum ersten Mal. Ich habe auf das Licht geschaut, die Farben, die Bäume, die Vögel, die Tiere. Ich habe gespürt, wie die Luft durch meine Nase strömt und wie sie mich atmen lässt. Ich ha-be Stimmen auf dem Korridor gehört, die wie im Gewölbe einer Kathedrale hoch nach oben steigen. Ich habe gespürt, wie ich lebe. Ich bebte vor reiner Freude. Vor Glück, dazu sein. Ich war überwältigt.
Ich danke Dir, lieber Gott, dass Du das für mich getan hast. Ich hatte das Gefühl dass Du mich an die Hand genommen und mich mitten in das Herz des Geheimnis-ses geführt hast, um das Geheimnis anzuschauen. Danke.

Bis morgen, Küsschen,
Oskar

P.S. Mein Wunsch: Kannst Du das mit dem ersten Mal auch für meine Eltern tun? Oma Rosa, glaube ich, kennt das schon. Und auch für Peggy, falls Du Zeit hast.“ (S. 98 – 100)

Das ist das Herz des Geheimisses: Schau jeden Tag auf dieser Welt, als wäre es das erste Mal.
Das wäre toll, wenn wir das öfter spüren könnten. Jeden Tag ganz neu, das Wunder spüren, dass wir leben und atmen. Dass die Sonne aufgeht. Es scheint ja so selbst-verständlich. Dabei ist es das gar nicht. Jeder Tag, an dem wir das Leben in uns pul-sieren fühlen, ist wie ein Geschenk.
Das entdeckt auch Oskar. Als er hundert wird:
„Lieber Gott,
heute bin ich hundert. Wie Oma Rosa. Ich schlafe viel, aber ich fühle mich wohl.
Ich habe versucht meinen Eltern zu erklären, was das Leben für ein komisches Ge-schenk ist. Am Anfang überschätzt man dieses Geschenk, man glaubt, man lebt ewig. Später unterschätzt man es, man findet es kümmerlich, zu kurz, am liebsten würde man es wegschmeißen. An Ende wird einem klar, dass es gar kein geschenk ist, sondern nur geliehen. Also versucht man, es sich zu verdienen. Ich, der ich hun-dert Jahre alt bin, ich weiß, wovon ich rede. Je älter man wird, umso mehr Findigkeit muss man entwickeln, damit man das Leben zu schätzen weiß. Man muss feinfühli-ger werden, ein Künstler. Jeder hergelaufene Dummkopf kann das Leben mit zehn oder Zwanzig genießen, aber um es mit hundert zu schätzen, wenn man sich nicht mehr rühren kann, muss man seinen Verstand benutzen.
Ich weiß nicht, ob ich die beiden wirklich überzeugen konnte.
Besuch sie. Bring Du die Arbeit zu Ende.
Ich bin ein bisschen müde.

Bis morgen, Küsschen,
Oskar“ (S. 101 – 102)

„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“, so heißt es im 90. Psalm. Ich glaube, es ist natürlich, dass wir Menschen meistens nicht dar-an denken, dass wir irgendwann einmal sterben. Zumindest solange wir jung sind und gesund.
Aber wie wäre es, würden wir uns dessen mehr bewusst sein? Und diesen heutigen Tag so leben, als wäre es unser letzter. Dann wäre plötzlich vieles anders. Wir könn-ten nämlich nichts mehr rausschieben. Wir müssten JETZT das tun, was wirklich wichtig ist.
Ich weiß nicht, was das für sie wäre. Vielleicht endlich zu einem bestimmten Men-schen gehen, und das sagen, was mir schon so lange auf der Seele brennt: Ent-schuldigung oder Ich liebe Dich. Oder vielleicht, endlich nicht mehr zu schweigen. Jemandem davon zu erzählen, was ich schon so lange mit mir herumschleppe: Schuld, ein vermeintliches Geheimnis, das ich aber alleine nicht mehr tragen kann. Oder vielleicht wäre es auch, einfach so viel Freude und Lebenslust wie möglich zu spüren. Oder was ganz anderes?

Oskar stirbt. Am elften Tag schreibt er an Gott:
„Lieber Gott,
hundertzehn Jahre alt. Das ist ,ne Menge. Ich glaub, ich fang zu sterben an.

Oskar“ (S. 103)

Und dann berichtet Oma Rosa:
„Lieber Gott,
der kleine Junge ist tot.

Ich werde weiter eine rosa Dame bleiben, aber ich werde nie wieder Oma Rosa sein. Die war ich nur für Oskar.
Er ist heute Morgen gestorben, während der halben Stunde, die ich mit seinen Eltern einen Kaffee trinken war. Er hat es ohne uns getan. Ich glaube, dass er diesen Mo-ment abgewartet hat, um uns zu schonen. Als wolle er uns den Schrecken ersparen, ihn gehen zu sehen. Eigentlich ist er es gewesen der über uns gewacht hat.
Mein Herz ist voller Trauer, mein Herz ist schwer, Oskar wohnt in ihm, und ich kann ihn nicht daraus vertreiben. Ich muss meine Tränen für mich behalten, jedenfalls bis heute Abend, weil ich meinen Kummer nicht messen möchte mit dem unermeßlichen seiner Eltern.“ (S. 104)

Vielleicht können Sie das auch spüren, wie Oma Rosa: Dass es in all dem Schmerz über den Verlust eines Menschen doch etwas gibt, was im Herzen bleibt. Die Erinnerungen, das Schöne, was wir mit ihm oder ihr erlebt haben. Die schweren Zeiten, die wir zusammen durchlitten haben. Ganz gleich, wie lange das war, dieser Mensch hat ein Stück seines Lebens mit uns geteilt. Durch seine unverwechselbare Art hat er oder sie uns etwas gegeben, was nur er oder sie geben konnte. Das alles ist ein Schatz in unseren Herzen, den niemand uns nehmen kann.

Und das was Oskar geschrieben hat: „Nur der liebe Gott darf mich wecken“. Gott hat sie geweckt, unsere Toten. Er hat sie auferweckt zum ewigen Leben. Sie sind im Himmel, so sagen wir es manchmal. Und das meint bestimmt nicht, dass sie irgend-wo da oben schweben. Sondern das heißt einfach, dass sie jetzt ganz bei Gott sind. Dort, wo es keinen Schmerz und kein Leid gibt. Wo Gott alle Tränen von ihren Augen abwischt. Wo Gott sie in seine Arme nimmt, wie eine Mutter.
In diesen Himmel, da kommen wir auch hin, wenn wir sterben. Und manchmal spüren wir schon etwas von diesem Himmel hier bei uns auf der Erde.

von Astrid Prinz

Buch: Eric-Emmanuel Schmitt, Oskar und die Dame in Rosa, Frankfurt a.M. 2005.