Predigt zu Offenbarung 21

Liebe Gemeinde,
der letzte Sonntag im Kirchenjahr ist den Verstorbenen gewidmet, und traditionell kommen besonders viele Menschen in die Kirchen, die von jemandem Abschied nehmen mussten.
Die Namen derer werden verlesen, die im letzten Kirchenjahr bei uns beerdigt wurden.

Wir tun damit mehr, als „nur“ den Verstorbenen zu gedenken, weil dies der menschlichen Pietät entspricht und dazugehört, sondern wir tun damit auch etwas für uns selbst.
Die Erinnerung ist, wenn man sie zulässt und ihr Raum gibt, etwas Bereicherndes.

Der Tod ist die schärfste Trennung, die wir von einem geliebten Menschen, von Angehörigen und Freunden, von Menschen, die uns nahe waren, erfahren können.
Uns diesen Erinnerungen an sie zu stellen, diesen konkreten, unverwechselbaren Eindrücken, die sie in unserem eigenen Leben hinterlassen haben, macht uns reicher.
Das gilt auch dann, wenn diese Erinnerungen in uns die Trauer wieder wachruft.
Denn alle diese Menschen sind Teil unseres eigenen Lebens gewesen;

Erinnerung macht uns reicher, das gilt auch, wenn wir zu einem Menschen kein ungetrübtes Verhältnis hatten, wenn vielleicht Verhärtungen noch sind und Bitterkeiten, die vor dem Tod nicht gelöst werden konnten.

Die Erinnerung an einen verstorbenen Menschen lässt uns auch unserem eigenen Leben begegnen: was hat sich verändert seit dem? Habe ich schon wieder Boden unter den Füßen? Habe ich mein Leben neu eingerichtet?

Erinnerung ist auch dann, wenn sie schmerzhaft ist, etwas Wertvolles, Kostbares.
Zu ihr gehören die Trauer ebenso wie der Schmerz, aber die beiden nicht nur allein. Die Erinnerung gibt uns etwas von dem, was wir meinten, verloren zu haben.
Sie bringt uns in Kontakt mit uns selbst und lässt die nicht vergessen sein, die mit uns verbunden waren und bleiben. Gerade der Schmerz – wenn wir ihn zulassen – macht uns klar, wie lebendig wir sind, und durch ihn erleben wir auch das andere: die Dankbarkeit und das Bewusstsein für das Gewesene und auch die Freude an dem, was war.

Der christliche Glaube gibt dabei diesem Erinnern und allen Gefühlen, die in ihm wach werden noch eine besondere Perspektive. Sie ist in unserem heutigen Predigttext aufgeschrieben – und sie ist durch die Auferstehung von Jesus wahr geworden.

Es ist die Gewissheit, oder die Wahrheit, dass Menschen mit dem, was sie bestimmt, was sie ausmacht und prägt in all ihrer Unverwechselbarkeit nicht nur in unserer Erinnerung aufgehoben sind.
Sie bleiben unverlierbar in der Macht und der Liebe Gottes, die an der Grenze zwischen Leben und Tod nicht endet.

Unser Glaube gibt uns Perspektiven – und eine davon möchte ich Ihnen durch ein Märchen erzählen.

Die Kölner Gestalttherapeutin Inge Wuthe hat es geschrieben. Es heißt: Das Märchen von der traurigen Traurigkeit.

Es war eine kleine Frau, die den staubigen Feldweg entlang kam. Sie war wohl schon recht alt, doch ihr Gang war leicht, und ihr Lächeln hatte den frischen Glanz eines unbekümmerten Mädchens.
Bei der zusammengekauerten Gestalt blieb sie stehen und sah hinunter. Sie konnte nicht viel erkennen. Das Wesen, das da im Staub des Weges saß, schien fast körperlos. Es erinnerte an eine graue Flanelldecke mit menschlichen Konturen.
Die kleine Frau bückte sich ein wenig und fragte: „Wer bist du?“ Zwei fast leblose Augen blickten müde auf. „Ich? Ich bin die Traurigkeit“, flüsterte die Stimme stockend und so leise, dass sie kaum zu hören war.
„Ach, die Traurigkeit!“ rief die kleine Frau erfreut aus, als würde sie eine nahe Bekannte begrüßen.
„Du kennst mich?“, fragte die Traurigkeit misstrauisch.
„Natürlich kenne ich dich! Immer wieder mal hast du mich ein Stück des Weges begleitet.“

„Ja, aber…“, argwöhnte die Traurigkeit, „warum flüchtest du dann nicht
vor mir? Hast du denn keine Angst?“

„Warum sollte ich vor dir davonlaufen, meine Liebe? Du weißt doch selbst nur zu gut, dass du jeden Flüchtling einholst. Aber, was ich dich fragen will: Warum siehst du so mutlos aus?“

„Ich… bin traurig“, antwortete die graue Gestalt mit brüchiger Stimme.

„Die kleine alte Frau setzte sich zu ihr. „Traurig bist du also“, sagte sie und nickte verständnisvoll mit dem Kopf. „Erzähl mir doch, was dich so bedrückt.“

Die Traurigkeit seufzte tief. Sollte ihr diesmal wirklich jemand zuhören wollen? Wie oft hatte sie sich das schon gewünscht. „Ach, weißt du“, begann sie zögernd und äußerst verwundert, „es ist so, dass mich einfach niemand mag. Es ist nun mal meine Bestimmung, unter die Menschen zu gehen und für eine gewisse Zeit bei ihnen zu verweilen. Aber wenn ich zu ihnen komme, schrecken sie zurück. Sie fürchten sich vor mir und meiden mich wie die Pest.“

Die Traurigkeit schluckte schwer. „Sie haben Sätze erfunden, mit denen sie mich bannen wollen. Sie sagen: Papperlapapp, das Leben ist heiter.
Und ihr falsches Lachen führt zu Magenkrämpfen und Atemnot.

Sie sagen:
Gelobt sei, was hart macht. Und dann bekommen sie Herzschmerzen.

Sie sagen: Man muss sich nur zusammenreißen. Und spüren das Reißen in den Schultern und im Rücken.

Sie sagen: Nur Schwächlinge weinen. Und die aufgestauten Tränen sprengen fast ihre Köpfe.
Oder aber sie betäuben sich mit Alkohol und Drogen, damit sie mich nicht fühlen müssen.“

„Oh ja“, bestätigte die alte Frau, „solche Menschen sind mir schon oft begegnet.“

Die Traurigkeit sank noch ein wenig mehr in sich zusammen.
„Und dabei will ich den Menschen doch nur helfen. Wenn ich ganz nah bei ihnen bin, können sie sich selbst begegnen. Ich helfe ihnen, ein Nest zu bauen, um ihre Wunden zu pflegen. Wer traurig ist, hat eine besonders dünne Haut. Manches Leid bricht wieder auf, wie eine schlecht verheilte Wunde, und das tut sehr weh.

Aber nur, wer die Trauer zulässt und all die ungeweinten Tränen weint, kann seine Wunden wirklich heilen. Doch die Menschen wollen gar nicht, dass ich ihnen dabei helfe. Statt dessen schminken sie sich ein grelles Lachen über ihre Narben. Oder sie legen sich einen dicken Panzer aus Bitterkeit zu.“
Die Traurigkeit schwieg.

Ihr Weinen war erst schwach,
dann stärker und schließlich ganz verzweifelt.

Die kleine, alte Frau nahm die zusammengesunkene Gestalt tröstend in ihre Arme. Wie weich und sanft sie sich anfühlte, dachte sie und streichelte zärtlich das zitternde Bündel. „Weine nur, Traurigkeit“, flüsterte sie liebevoll, „ruh dich aus, damit du wieder Kraft sammeln kannst.
Du sollst von nun an nicht mehr alleine wandern. Ich werde dich begleiten, damit die Mutlosigkeit nicht noch mehr an Macht gewinnt.“

Die Traurigkeit hörte auf zu weinen. Sie richtete sich auf und
betrachtete erstaunt ihre neue Gefährtin: „Aber … aber – wer bist eigentlich du?“

„Ich?“ sagte die kleine, alte Frau schmunzelnd, und dann lächelte sie wieder so unbekümmert wie ein junges Mädchen. „Ich bin die Hoffnung!“

Liebe Gemeinde, als ich dieses Märchen zum ersten Mal hörte, hat es mich sehr bewegt.

Ich habe mich darin wiedergefunden und gespürt: Ja, das stimmt, wenn ich die Trauer zulasse und sie sein darf und ihren Ort bekommt und nicht vertrieben wird mit Ablenkung und Geschäftigkeit – aus lauter Angst vor der Trauer! – dann stellt sich das andere auch ein: nämlich die Hoffnung, die Dankbarkeit und die Freude.

Traurigkeit und Hoffnung gehören zusammen; wo die eine ihren Raum hat, hat auch die andere einen Platz.
Es liegt ein tiefes Geheimnis in diesen Gefühlen, die der Tod in uns wach ruft.
Sie brauchen ihre Zeit und ihren Ort, und wenn man sie ihnen lässt und gibt, dann bereichern sie unser Leben. Es wird intensiver und tiefer und wahrer.
Und es ist gut zu spüren, dass auch wir, wenn unser Leben endet, eine Hoffnung haben, die sich auf beides richtet: dass auch wir aufgehoben bleiben zunächst in der Erinnerung derer, die uns kannten, mochten und liebten. Und dass darüber hinaus Gottes Liebe, die uns im Leben trägt und das Vertrauen schenkt und die Hoffnung und den Glauben, uns umgibt über den Tod hinaus.
In seiner Hand sind wir alle und auch die bewahrt, die wir im letzten und allen Jahren davon betrauert haben.

Was bleibt, ist also neben der Trauer die Hoffnung. Und eine Hoffnung auf Gottes eigene Zukunft bekennt auch unser Predigttext.
Er lenkt den Blick nicht nur in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft und er öffnet in uns vielleicht so etwas wie eine Sehnsucht. Wie in einem Traum, in dem jede Vorstellung erlaubt ist, solange sie schön ist.
Alles, wonach wir streben an Schönheit, Wohlbefinden, Glück und Freiheit manifestiert sich darin.

Ich lese aus der Offenbarung im 21. Kapitel:
Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr.
2 Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann.
3 Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein;
4 und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.
5 Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu! Und er spricht: Schreibe, denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiss!
6 Und er sprach zu mir: Es ist geschehen. Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende. Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst.
7 Wer überwindet, der wird es alles ererben, und ich werde sein Gott sein, und er wird mein Kind sein.

Liebe Gemeinde,
lassen Sie sich hineinnehmen in diese Hoffnung. Das ist die kleine graue Gestalt, die der Traurigkeit zur Seite gestellt wird: Die Hoffnung, dass Gott abwischen wird alle Tränen, nicht um sie klein zu reden oder zu verdrängen, sondern um uns zu heilen.
Die Hoffnung, dass wir eines Tages den Tod und das Leid nicht mehr kennen werden und nicht mehr erleben müssen.
Das dürfen wir glauben.
Und wir dürfen an den glauben, der unsere Ängste in Mut verwandelt, unsere Sorge in Zuversicht und letztlich unsere Trauer in Hoffnung.
Amen.