Bildpredigt zu Lukas 23,50-56 und 1. Korinther 15,20 ff „Und sieh doch!“ (Karfreitag)

Lukas 23,50-56 (nach der BasisBibel)

50 Und sieh doch: Zu den Mitgliedern des jüdischen Rates gehörte ein Mann mit Namen Josef. Er lebte vorbildlich und hielt Gottes Gebote. 51 Mit den Beschlüssen und dem Vorgehen des jüdischen Rates war er nicht einverstanden gewesen. Josef kam aus Arimathäa, einer Stadt in Judäa. Er wartete darauf, dass Gott sein Reich in der Welt anbrechen lässt. 52 Josef ging zu Pilatus und bat ihn um den Leichnam von Jesus. 53 Dann nahm er ihn vom Kreuz ab, wickelte ihn in ein Leinentuch und legte ihn in eine Grabkammer. Die war in einen Felsen gehauen und es hatte noch niemand in ihr gelegen. 54 Das geschah am Vorbereitungstag, unmittelbar vor Beginn des Sabbats. 55 Die Frauen, die zusammen mit Jesus aus Galiläa gekommen waren, gingen Josef nach. Sie sahen die Grabkammer und beobachteten, wie der Leichnam hineingelegt wurde. 56 Dann kehrten sie in die Stadt zurück und bereiteten wohlriechende Öle und Salben vor. Aber den Sabbat verbrachten sie in Ruhe, wie das Gesetz es vorschreibt.

Liebe Gemeinde,

Jesus ist tot. Das Drama seines Sterbens ist vorbei.

Diejenigen, die miterlebt haben, wie er gefoltert und hingerichtet wurde, sind fassungslos. Einer ergreift die Initiative und sorgt dafür, dass Jesus in ein Grab gelegt wird.

Was Lukas berichtet, mutet an wie eine Pflichtübung nach dem Grauen dieses Sterbens. Jemand muss sich um den Leichnam kümmern. Irgendwie müssen Amtsgänge erledigt, muss die Bestattung organisiert werden.

So erzählen es ja manchmal auch Trauernde. Es ist eine Zeit, in der alles zwischen unendlicher Traurigkeit, verbissener Pflichterfüllung, bleierner Kraftlosigkeit hin- und herschwankt; alles geschieht wie unter einer schweren Decke, wie in einem dichten Nebel. Aber irgendwie muss es gehen.

Und doch handeln die Evangelisten die Chronik dieser Ereignisse nicht wie eine Pflichterfüllung ab. Alle vier Evangelisten erzählen, wie Josef von Arimathäa Jesus begraben lässt – jeder von ihnen von ihnen mit einem besonderen Blick auf diese Begebenheit. Lukas selbst würdigt die Frauen, die hier und jetzt und jetzt schon zu Zeuginnen werden, genau beobachten und vorbereiten. Und er würdigt diesen Josef von Arimathäa, der alles in die Hand nimmt.

Dabei schweigt der Text über die Motive des Josef. Warum überlässt er den Toten nicht den Römern? Warum begibt er sich in die Gefahr, als Sympathisant zu gelten? Ist es Mitleid mit diesem Jesus, der unschuldig zwischen die Mühlräder der Politik geraten ist? Ist es seine Religion, die es ihm vorschreibt? Sein Glaube an einen Gott, der zu jedem Menschen sagt: Ich habe dich bei deinem Namen gerufen? Sind es tiefe Verbundenheit und Freundschaft? Lukas beantwortet uns diese Fragen nicht.

Er beginnt seine Erzählung mit den Worten: „Und sieh doch!“

So ruft er es seinen Lesern zu. Schau hin! Auch wenn du es nicht mehr sehen magst. Schau hin, was geschieht. Es ist wichtig. Nicht nur irgendwie ein Zwischenspiel. Nicht nur eine bedeutungslose Brücke zwischen Karfreitag und Ostern. Sieh hin und lerne.

Josef und diese Frauen, sie erweisen dem Entehrten eine letzte Ehre, geben dem Entwürdigten die Würde zurück. Indem sie denjenigen in Tücher hüllen, der vor den Gaffern bloßgestellt worden war in seinem Todeskampf. Zärtlichkeit für den Zerschlagenen.

Gewiss – und darauf legt Lukas viel Wert -, sie tun es nach den Vorschriften ihres Glaubens, ihrer Religion und Kultur. Damit halten sie an den vertrauten Ritualen fest,

wo ihnen die Trauer den Boden unter den Füßen wegzuziehen droht.

Sieh hin! So sagt Lukas. Und die Christinnen und Christen lernen von Josef von Arimathäa und den Frauen.

Die Sorge um die Toten äußert sich zwar in jeder Kultur anders. Aber es gibt keine Humanität, kein Menschsein ohne einen würdigen Umgang mit den Toten.

Schon in der frühen Christenheit  wird dafür gesorgt, dass auch Arme, Verstoßene oder hingerichtete Personen beerdigt werden. Menschen, um die sich niemand kümmert, die vielleicht auch niemand kannte. Es ist eine Tat der Barmherzigkeit.

Und es ist ein Zeugnis des Glaubens. Weil der Tod nicht das letzte Wort hat, sollen wir auch nicht achtlos mit den Toten umgehen. Weil auch sie in unsere Gemeinschaft mit Christus gehören, sollen wir sorgsam mit ihnen umgehen.

Sicher: unbeerdigt bleibt heute in unserer Gesellschaft niemand mehr. Aber vergessen werden viele. Tote beerdigen heißt nicht nur, sie unter die Erde zu bringen, sondern sie und ihre Namen nicht zu vergessen.

Aus diesem Impuls heraus nahm sich vor einigen Jahren in Frankfurt die Kirchengemeinde „Frieden und Versöhnung“ der Frage an, was sie als Gemeinde tun kann, damit niemand vergessen wird.

Am Anfang stand Betroffenheit: Es ist traurig, wenn treue Gemeindemitglieder, die schon eine gefühlte Ewigkeit bei fast allen Aktivitäten im Gemeindeleben dabei sind, sagen: „Ich lasse mich mal anonym bestatten. Ich habe niemanden, der mein Grab pflegen wird.“

Eine Erfahrung, auf die die Gemeindepädagogin Monika Kittler mit folgenden Worten reagiert: „Das kann doch nicht sein, dass Menschen, mit denen man eng verbunden ist, einfach weg sind. Es muss doch einen Ort geben, wo wir uns an sie erinnern können.“

Gründe gibt es viele, warum Menschen sich anonym bestatten lassen: nicht wenige entscheiden sich dafür, weil ihnen das Geld fehlt, um eine andere Bestattungsform wählen zu können, andere, weil es niemanden gibt, der ihr Grab pflegen würde.

Aber wenn wir glauben, dass Gott uns beim Namen ruft, wenn wir glauben, dass Gott uns nicht vergisst im Tod, wenn wir glauben, dass der gestorbene und auferstandene Christus uns verbindet über die Grenze des Todes hinweg, dann dürfen und sollen wir uns auch an die Toten erinnern. Dann sind wir gefragt so sorgsam mit ihnen umzugehen wie Josef und diese Frauen mit Christus umgegangen sind.

Daher begannen einzelne Vertreter der Kirchengemeinde „Frieden und Versöhnung“  2009, neu über die Beerdigung ihrer Toten nachzudenken. Sie entwickelten eine Alternative zur anonymen Bestattung in Form eines bezahlbaren Gemeinschaftsgrabes für Gemeindeglieder auf dem Friedhof in Griesheim. Es ist so angelegt, dass es von den Angehörigen keine Pflege erfordert. Das Grünflächenamt der Stadt Frankfurt unterstützte ihr Vorhaben und stellte hierfür kostenlos und unbefristet eine Fläche zur Verfügung.

In die Gestaltung der Grabstätte wurde die Gemeinde mit einbezogen. Etwa fünfzehn Personen im Alter von 40 bis 80 Jahren nahmen an einem Workshop mit dem Künstler Joachim Kreutz teil. Relativ schnell wurde den Teilnehmenden deutlich, dass die Christusfigur im Altarbereich der Friedenskirche eine hohe Symbolkraft für sie hat. Das brachte den Künstler auf die Idee, den Schattenriss dieser Christusfigur als Skulptur zu gestalten, und so die Verbindung zur Gemeinde herzustellen.

Sie sehen diese Skulptur auf dem Foto, das Sie in der Hand halten. Die Christusfigur tritt aus einer undurchdringlichen Stahlwand heraus. Sie durchbricht die Wand des Todes.

Das Material, aus dem sie gefertigt wurde, ist Cortenstahl.

Ein eigenwilliges, ein besonderes Material. Dieser Stahl rostet. Ein Zeichen der Vergänglichkeit. Aber gerade der Rost bildet über dem Stahl eine schützende Schicht. Dieses Zeichen des Verfalls schützt vor dem Verfall. Ein seltsames Paradox. Das Paradox der Trauer? Ist das Loslassen der Trauer ein Schutz, die Erinnerung zu bewahren? Schützt das Abschiednehmen in der Trauer vor dem endgültigen Verlust?

Neben der Christus-Skulptur wurden zwei Grabmäler aufgestellt, auf denen die Worte Frieden und Versöhnung stehen. Die Namen der Verstorbenen sollen dort auf Bronzetafeln verewigt werden. Wenn die Ruhezeit für die Urnen nach zwanzig Jahren abläuft, bleiben die Namen dort weiter stehen. Ende April 2017 wurde die Grabstätte eröffnet.

Sieh hin! So sagt Lukas. Lernt von diesem Josef und von den Frauen, wie sie mit Christus umgehen. Aus der Grausamkeit des Karfreitags soll die Barmherzigkeit werden, mit der Christen sich um die Toten mühen. Weil es ein Zeichen ihrer Hoffnung ist, dass der Tod nicht das letzte Wort hat.

Sieh hin! Und wer genau hinsieht, entdeckt auf dem Bild, in dieser Skulptur,  mehrere Gestalten, die hinter der ersten hergehen.

Es ist so, wie Paulus in einem Brief an die Gemeinde in Korinth schreibt:

(1. Korinther 15,20 ff.)

Jetzt ist Christus aber vom Tod auferweckt worden, und zwar als Erster der Verstorbenen. … Aber genauso werden wir alle lebendig gemacht, weil wir mit Christus verbunden sind.

Und noch mehr: Wir gehen in die Gemeinschaft mit anderen, die vor uns hergegangen sind.

Liebe Gemeinde, der Erste, der dort geht, ist dieser Christus. Durch den Tod ins Leben, vom Karfreitag zum Ostermorgen. Und sieh doch! Wir gehen hinter ihm her.

Amen.

von Matthias Schmidt