Predigt zu Psalm 91,5 – Gedenkgottesdienst für verstorbene Kinder

Goldenes Geflecht – Weltweites Kerzenleuchten

Liebe Gemeinde,

heute brennen Kerzen. Hier in der Kirche, an den Adventskränzen und weltweit. In vielen Häusern und Wohnungen, in denen ein Kind fehlt. Candlelight Day. Weltweites Kerzenleuchten für die verstorbenen Kinder. Von Land zu Land, 24 Stunden lang. Familien stellen für ihre Kinder Kerzen ins Fenster. Um 19 Uhr machen sie das. So entsteht eine Lichterwelle rund um den Globus. „Möge ihr Licht für immer scheinen.“ Dafür stehen die Kerzen.

Ich stelle mir vor, wie das von oben aussieht. Sozusagen aus der Sicht Gottes. Aus der anderen Welt, die jenseits unserer Welt ist. Ich stelle mir vor, wie Hunderttausende von Kerzen still leuchten, von Asien und Australien über Europa und Afrika bis nach Amerika. Wo die einen schon erloschen sind, beginnen die andern erst zu brennen. Kerzen wie diese hier in der Kirche. Die den Schrecken der Nacht in sanftes Licht hüllen.

Und ich stelle mir vor, wie sich alle verstorbenen Kinder in der anderen Welt um Gott herumscharen: Die ganz Kleinen getragen auf Engelsflügeln. Die Größeren auf dem Schoß von Engeln. Die Großen stehend, mit Engelsschutz hinter sich. Ich stelle mir vor, wie sie herunterschauen. Voller Liebe. Und mit einem Lächeln. Und wie da ein feines Gespinst entsteht zwischen Himmel und Erde. Ein goldenes Geflecht. Lichtstreifen der Liebe. Sie verbinden die Kinder mit ihren Eltern, mit ihren Geschwistern, mit ihren Großeltern und Freunden. Eine große Gemeinschaft, die diese Welt und die andere Welt miteinander verbindet. Denn die Liebe hört niemals auf, schreibt der Apostel Paulus im Neuen Testament.

„Du musst dich nicht fürchten vor dem Schrecken der Nacht.“ Das haben wir vorhin in der Collage zum 91. Psalm gehört. Du bist nicht allein. „Gott wird dich mit seinen Fittichen bedecken“, so heißt es dann weiter. „Gott wird dich mit seinen Fittichen bedecken, und Zuflucht wirst du haben unter seinen Flügeln.“ Bilder sind das. Metaphern. Sie erklären nichts logisch. Aber sie können verwundeten Seelen aufhelfen.

Was brauchst du?

Was brauchen verwundete Seelen? Was brauchen Menschen, wenn der Tod in ihr Leben tritt? Wenn der Schrecken nach ihnen greift. Oft weiß ich das nicht, sagen manche. Es ist leichter zu sagen, was ich nicht brauche. So ging es denen, die ich gefragt habe. Jeder trauert anders. Die Gefühle fahren oft Achterbahn. Manchmal bleiben sie mittendrin einfach stehen. Oder man droht abzustürzen.

„Wenn man ganz große physische Schmerzen hat, ist es doch ein Glück, wenn man ohnmächtig wird. Und ich glaube, dass eine Seele, die es nicht ertragen kann, auch ohnmächtig werden kann.“ Trude

Simonsohn hat das gesagt. Eine Jüdin, die das Konzentrationslager überlebt hat. Es ist nicht krank – es ist ein Glück, wenn eine Seele in Ohnmacht fällt. Wenn der Schmerz nicht zu ertragen ist.

Ich habe mich zurückgezogen. Ich brauche das, sagt mir ein Vater. Ich kann nicht zu diesem

Gedenkgottesdienst gehen. Ich krieg das einfach nicht hin, sagt eine Mutter. Sie will diese Schmerzen

nicht. Manche Ohnmacht dauert lange.

Sich im Bett verkriechen und gar nichts tun. Vor allem: Bloß nichts fühlen. Die Seele nicht aus der

Ohnmacht wecken. Denn wenn sie erwacht, dann ist der Schmerz da. Dann kommt die Sehnsucht nach dem Kind, nach der Schwester, nach dem Bruder, dem Freund, der Freundin. Jemanden oder etwas brauchen würde heißen: Den Schmerz fühlen. Die Realität sehen. Den Tod sehen. Das Herz fühlen, wie es zu zerspringen droht. Dann kommt die Trauer. Dann kommt aber auch die Liebe. Und Liebe ist Leben.

Was brauchst du, habe ich eine Mutter gefragt. Ich habe Zeit gebraucht, und manchmal brauche ich sie immer noch, sagt sie. So schnell kommt man nicht wieder auf die Beine. Sie hat zwei Kinder verloren, eines mit wenigen Monaten und eines wurde tot geboren. Das ist über 20 Jahre her. Der Schmerz ist weniger geworden. Aber die Trauer kommt immer wieder zu Besuch. Manchmal ohne Ankündigung. „Gell, du weinst wegen dem toten Baby“, hat ihre Tochter manchmal gesagt. Für Geschwister ist das schwer. Es tut weh, das Geschwisterkind zu verlieren. Und außerdem erleben sie die Eltern so schwach.

Wir haben nach dem Tod unseres Kindes einige Freundinnen und Freunde verloren, sagt eine Mutter. Sie konnten uns nicht ertragen.  Es muss doch mal vorbei sein. Wird es nicht mal besser? Das hören wir manchmal. Doch, es wird besser. Es gibt Lachen. Es gibt Freude. Es gibt Glück. Aber es gibt auch immer wieder die Trauer. Denn die Liebe zu den Kindern bleibt.  Und darum auch die Trauer. Tränen sind Leben.

Ich brauche das normale Leben, sagt eine junge Frau. Ihre jüngere Schwester war mit 18 Jahren tödlich verunglückt. Der Schmerz holt sie immer wieder ein. Da ist Wut manchmal, auch auf die Eltern. Sie weiß gar nicht genau, warum. Sie hat von ihrer Schwester geträumt. Und die hat ihr gesagt: Es geht mir gut in der anderen Welt. Mach dir keine Sorgen. Das hat sie getröstet. Trotzdem gehen die Gefühle hin und her. Trauer läuft eben nicht geradeaus.

Ich brauche jemanden, der Schuld hat, sagt eine Mutter. Jemand, der verantwortlich ist für den Tod. Gott oder ein höheres Wesen. Den ich fragen kann: Warum? Warum so früh. Warum mein Kind? Und ich brauche jemanden, die sich neben mich setzt und schweigt. Und nicht auf den Gedanken kommt, zu antworten. Keine Antwort würde mir den Schmerz nehmen. Aber das Fragen – das nimmt etwas den Druck weg. Manchmal habe ich das Gefühl, dass es Gott selbst ist, der sich neben mich setzt.

Oder ein Engel.

Ich brauche Freunde, die mich aushalten, sagt ein Vater. Viele können das nicht. Es ist schwer, mich anderen zuzumuten. Ich brauche vor allem niemanden, der mir sagt: Für eine Mutter ist das viel schlimmer. Das hat mich wahnsinnig gemacht. Und ich brauche niemanden, der mir sagt: Du musst loslassen. Das ist doch jetzt schon drei Jahre her mit dem Unfall. Ich will auch nicht gesagt bekommen, wie ich als Mann trauern muss.

Niemand muss etwas. Du musst nichts. Du musst keinen Sinn in dem Tod finden. Du musst nicht loslassen. Du musst auch nicht Trauerarbeit leisten. Als ob man Trauer abarbeiten könnte wie einen Berg Akten. Du musst dich nicht fürchten vor dem Schrecken der Nacht. So heißt es im 91 Psalm. Und wenn du dich doch fürchtest, wenn deine Seele aus der Ohnmacht aufwacht und die Trauer dich weinen macht, die Sehnsucht im Bauch brennt und der Schmerz das Herz durchbohrt  – dann … ja was?

Goldreparatur

Ich komme ins Stottern. Was kann den Schrecken nehmen und die Wunden heilen? Vielleicht hilft ein Bild weiter, eine  Metapher. In dem sogenannten „Anderen Adventskalender“ für dieses Jahr habe ich über die japanische Kunst des „Kintsugi“ gelesen. Das heißt übersetzt „Goldreparatur“. Wenn eine wertvolle Keramikschale in Scherben zerbricht, wird sie wieder zusammengefügt. Es bleiben Risse übrig. Wie sollte es auch anders sein? Das Besondere an „Kintsugi“ ist aber: Die Bruchstellen werden nicht nur mit Kitt geflickt, sondern anschließend auch mit Goldstaub beschichtet. Entlang der Bruchstellen entsteht dadurch ein goldenes Geflecht. Wie Lichtstrahlen sieht das aus. Was zerbrochen war, ist neu zusammengesetzt.  Neues ist geworden. Wie Narben sieht das goldene Geflecht aus. Die werden bleiben. Aber sie sind kostbar. Jede wiederhergestellte Schale zeigt: Ich bin an verschiedenen Stellen gebrochen. Aber es ist möglich, wieder ein Ganzes zu werden. Ein Gefäß, das sich neu füllt mit Leben, mit Liebe und der Sehnsucht nach Glück.

Es braucht Zeit. Es braucht Geduld. Und es braucht etwas Goldstaub. Den bekommt man vielleicht aus diesem feinen Gespinst zwischen Himmel und Erde, das entsteht, wenn die Kerzen leuchten. So wie heute. Lichtstreifen der Liebe, die sich aufspannen zwischen dieser und der anderen Welt.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, behüte und bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Sendung und Segen

Geht hin im Frieden Gottes.

Beglänzt von Gottes Licht.

Verbunden mit allen, die euch lieb sind,

in dieser und in der anderen Welt.

Gott segne dich und behüte dich.

Gott lasse das Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig.

Gott hebe das Angesicht auf dich und gebe dir Frieden.

 

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© Doris Joachim, Zentrum Verkündigung der EKHN

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