Bildpredigt „Bekannt bei Gott“

Der Schlüssel der Erinnerung

Liebe Gemeinde,

die Gesichter der Menschen mir gegenüber sind gezeichnet von Schmerz und Trauer, von Tränen und Müdigkeit. Ihr Blick verrät mir: Manchmal sind sie unendlich weit weg. Wir sitzen um einen Tisch und bereiten miteinander die Trauerfeier vor. Ich frage sie: Was können Sie mir aus dem Leben des Verstorbenen erzählen? Wer war der Verstorbene für Sie? Was hat ihn als Menschen ausgemacht? Zunächst kommen nur einige zögerliche Antworten. Ein paar Fakten, Daten, Zahlen. Doch dann habe ich das Gefühl, eine Tür tut sich auf. Und sie erzählen sich und mir Einzelheiten aus gemeinsam Erlebtem. Manchmal unterbrochen von Tränen. Oder von Schweigen. Auch das gibt es: Gemeinsames Lächeln, wenn schöne Erinnerungen wie kostbare Schätze gehoben und betrachtet werden. Irgendwie wirken sie auf mich, als seien sie beinahe ein wenig erschrocken über das Lächeln, das ihnen über die Wangen gleitet, berührt von der Intensität dieses Augenblicks. Erinnerungen an wunderbare Momente, aber auch an Eigenarten und Schrullen. Diese Menschen, die mit mir um den Tisch herum sitzen, lassen Erinnerungen lebendig werden: die Ehefrau, die Kinder, der beste Freund, die Nachbarn. Und für einen Moment ist an diesem Tisch nicht nur Traurigkeit und Schmerz, sondern die Gegenwart eines Menschen. Ein lebendiges Bild, das mehr bedeutet als Fotos.

Erinnerungen sind wie ein Schlüssel, mit dem die Tür zwischen Leben und Tod geöffnet wird – offen gehalten wird.

Hermann Hesse schreibt in einem Tagebucheintrag über die Bedeutung der Erinnerung:

„Alle leben, an die wir denken.

Sie sind erst wirklich tot,

wenn niemand mehr sich ihrer erinnert.“

Sich erinnern bedeutet unendlich viel.

Die Erinnerung an die Stimme, an die Schritte, an das Gesicht.

An Orte und Zeiten, an Häuser und Wege.

Da gibt es Fotos und Briefe.

Erinnerungen sind auch verbunden mit Kleidungsstücken und Gegenständen.

An den geliebten Garten oder das Buch.

Den Sessel oder den Mantel.

Und auch wenn man nach und nach in der Zeit der Trauer Dinge loslassen kann, sie fortgibt oder irgendwo verstaut, ein paar Gegenstände bleiben übrig, die die Erinnerung wecken und lebendig halten. Das gibt Menschen Trost.

Um sich erinnern zu können, brauchen sie aber auch Gelegenheiten und Orte. Das Grab ist für viele Menschen so ein Ort.

Hier kann die Erinnerung Gestalt gewinnen, durch Blumen, durch kleine Gegenstände und Skulpturen, manchmal auch durch Fotos. Das Grab, der Name, etwas Persönliches. Ja, vielleicht geht man mit der Zeit nicht mehr so oft zu dem Grab. Dennoch bleibt es ein Ort der Erinnerung. Ein Schlüssel, um die Tür zwischen Leben und Tod offen zu halten.

Gott erinnert sich

Wenn ich mit Angehörigen über die Beerdigung ihres Verstorbenen spreche, habe ich das Gefühl, Gott sitzt mit am Tisch. Ich stelle mir vor, dass er anwesend ist in diesen Gesprächen.

Als Gast.

Als Zuhörender.

Mir hilft dieses Bild:

Gott teilt die Trauer.

Gott teilt das Lächeln.

Gott teilt die Erinnerung.

Für die Menschen der Bibel war es wichtig, von Gott nicht vergessen zu werden. Zu wissen: Gott kennt mich. Da, wo ich hingehe, werde ich von Gott erwartet.

In Psalm 139 heißt es:

8 Führe ich gen Himmel, so bist du da;

bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da.

 9 Nähme ich Flügel der Morgenröte

und bliebe am äußersten Meer,

 10 so würde auch dort deine Hand mich führen

und deine Rechte mich halten.

Wenn Gott sich erinnert, dann kommt er mir entgegen an diesen Orten. Er ist schon da, umfängt mich.

Sei es in der Ferne des Todes, sei es in der Dunkelheit der Trauer.

Bekannt bei Gott und Menschen

Menschen können Menschen vergessen, aber Gott vergisst niemanden. Weil dieser Gedanke einem Friedhofsgärtner so wichtig ist, hat er ihn zum Ausdruck bringen wollen. Das Ergebnis sehen Sie auf dem Foto, das auf Ihrem Gottesdienstblatt abgedruckt ist.

Ein rostiges Metallstück in Form eines Schlüssels.

Dahinter verbirgt sich eine besondere Geschichte.

Ein Schlüssel.

Kein Name darauf.

Nur Jahreszahlen.

1967–2015

Ein Geburtsjahr,

ein Sterbejahr

Die Lebenszeit eines Menschen.

Und dazu der Satz:

Bekannt bei Gott.

Nicht mehr.

Wir erfahren nichts weiter über diesen Menschen – nicht, wer er oder sie war; welche Geschichten, welches Schicksal, welche Menschen ihn oder sie geprägt haben. Der symbolische Schlüssel hängt mit vielen anderen an einer Stele auf einem Friedhof in Neumünster in Norddeutschland.

Wie kam es dazu, dass der Friedhofsgärtner Sönke Schroeder diese Stele entworfen hat?

Vor einigen Jahren setzte eine große Welle ein, und immer mehr Menschen wurden anonym bestattet. Nicht selten geschieht dies aus Kostengründen oder weil es niemanden gibt, der das Grab pflegen kann.

Wenn die Angehörigen nicht bei der Beisetzung dabei sind, wissen sie nicht, wo die Urne begraben wurde. Nicht wenige leiden darunter. Immer wieder wird Sönke Schroeder im Nachhinein von Angehörigen angesprochen. Sie wollen den genauen Lageort wissen. Wollen die Urne vielleicht umbetten lassen in ein Einzelgrab. Die Angehörigen suchen manchmal einfach einen Ort für ihre Trauer.

Zumindest einen Ort für ihre Erinnerung.

Nicht nur für die Angehörigen, sondern auch für den Friedhofsgärtner sind anonyme Bestattungen unerträglich. Menschen können doch nicht einfach so verschwinden. Menschen bestatten zu müssen,

ohne dass etwas an sie erinnert, kann und will er nicht hinnehmen. Es ist für ihn, als ob die Tür zwischen Leben und Tod einfach verschlossen wird durch diese Form der Bestattung.

Weil die Nachfrage nach anonymen Bestattungen so hoch war, sollte Sönke Schroeder ein neues anonymes Gräberfeld anlegen. Dieses Mal, dachte er sich, soll es ein sichtbares Zeichen dafür geben, dass Gott niemanden vergisst. Er schuf eine Stele, an der symbolische Schlüssel hängen, auf die Angehörige den Namen des Verstorbenen und die Lebensdaten schreiben lassen können.

Und diejenigen, die dennoch namenlos bestattet werden sollen, bekommen einen Schlüssel, auf dem geschrieben steht „Bekannt bei Gott“.

Er will damit zum Ausdruck bringen:

Selbst wenn wir Menschen die Toten vergessen,

sie ohne Namen bestatten, bei Gott geht niemand verloren.

Dieses Zeichen, diese wenigen Worte auf dem Schlüssel,

halten die Tür der Erinnerung offen.

Erinnern daran, dass Gott sich erinnert.

Dass Leben nicht einfach vergeht.

Weil er im Leben und im Tod da ist.

8 Führe ich gen Himmel, so bist du da;

bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da.

 9 Nähme ich Flügel der Morgenröte

und bliebe am äußersten Meer,

 10 so würde auch dort deine Hand mich führen

und deine Rechte mich halten.

Diese Geschichte geht mir nach.

Sie bewegt mich.

Ein Ort der Erinnerung für die Trauernden.

Und ein Ort des Gedenkens, wo die Erinnerung einen Namen bekommt.

Bekannt bei Gott.

Im Fortgehen,

im Zurückbleiben.

Im Tod,

im Leben. Amen.

von Matthias Schmidt

Die Geschichte von Sönke Schroeder steht in dem Buch „Niemand soll vergessen sein. Bestatten – Gedenken – Erinnern. S. 143ff.