Trauer im Netz: „Du bist nun bei Gott, mein Kind.“

Trauern im Internet ist kein neues Thema. Bereits vor dreizehn Jahren wollte ein Frankfurter Unternehmer den Markt der virtuellen Bestattung aufrollen. Per Zeitungsinserat suchte er Theologen, die in seiner „Hall of Memory“ zur Trauerbegleitung bereit stünden. Bezahlen wollte er sie nicht – sie sollten für diese Aufgaben von der Kirche freigestellt werden. Die Kirchen gingen auf dieses Geschäftsmodell nicht ein, die „Hall of Memory“ startete als virtueller Friedhof, gehen eine hohe Gebühr konnten Angehörige Gedenkseiten für Verstorbene schalten lassen. Während Grabsteine auf Friedhöfen verwittern und Friedhofsverwaltungen Ruhezeiten vorgeben, sollten diese virtuellen Gedenkseiten für immer online sein. Wer heute jedoch die Internetanschrift der Hallo of Memory eingibt, findet keine Gedenkseiten mehr, sondern nur Werbung. Auch Webseiten und virtuelle Friedhöfe sind nicht ewig.

Die Erstellung von Webseiten ist in den letzten Jahren deutlich billiger geworden, es gibt sogar viele kostenlose Homepagebaukästen. Waren virtuelle Friedhöfe vor Jahren noch exotische Angebote, stehen nun verschiedene Anbieter im Konkurrenzkampf um die Aufmerksamkeit der Internetnutzer. Sie finanzieren sich entweder über Werbung oder haben ein Abo-Modell, um sich zu finanzieren. Da das Internet in immer mehr Lebensbereiche vordringt und Menschen mobiler werden und traditionelle Bindungen abreißen, passt das Internet zu der sich verändernden Zeit. „In unserer schnellen und mobilen Gesellschaft verschieben sich derzeit Werte und Bedeutungen. Neue Orte der Trauer entstehen, für jeden erreichbar, zu jeder Zeit. Deshalb bietet der online Friedhof auch bei anonymen Beerdigungen einen würdigen Ort und Platz der Trauer und des Gedenkens,“ wirbt ein Anbieter für die virtuellen Grabplätze.

Den Trend der Zeit haben auch die Zeitungsmacher wahrgenommen. „Online trauern. Erinnern in Gemeinschaft“ verspricht Trauer.de, das Online-Portal des nach eigenen Angaben größten Anzeigennetzwerkes in Deutschland. Zu den Medienpartnern gehören Zeitungen, vom Achimer Kreisblatt aus Syke bis zur bundesweit vertrieben Wochenzeitung „Die Zeit“. Die Zeitungsverleger haben erkannt, das Internet ist ein Geschäftsfeld, das auch Printmedien besetzen müssen. Neben der klassischen Todesanzeige in der Zeitung lässt sich daher über Trauer.de nun auch eine Online-Todesanzeige buchen. Der Mehrwert des Internets: Es lässt sich ein Foto des oder der Verstorbenen hochladen, in einem Gästebuch können Internetnutzer kondolieren, außerdem kann man eine Kerze anzünden. Wer will, schreibt eine Nachricht, diese wird dann neben dem Bild eines brennenden Teelichtes auf der Trauerseite veröffentlicht. Eine Stichprobe zeigt, dass diese zusätzlichen interaktiven Möglichkeiten nicht wirklich genutzt werden. Selbst beim kürzlich verstorben Liedermacher Franz Josef Degenhardt sind nur zwei Gedenkkerzen angezündet, eine davon ist von der trauer.de-Redaktion vom 19. August – sie wurde rund drei Monate vor dem Tod des Liedermachers angezündet. Dies legt die Vermutung nahe, dass im Portal Todesanzeigen von Promis auf Verdacht angelegt sind. Ein Erinnern in Gemeinschaft findet – entgegen der Überschrift – nicht statt.

Wie reagieren die Kirchen auf die Veränderungen in der Bestattungskultur? Bereits seit 2002 sind sie mit einem eigenen Trauerangebot im Netz. Sie bieten jedoch keinen virtuellen Friedhof, sondern mit Trauernetz.de einen Online-Trauerraum. Ob traurig, einsam, wütend oder schuldig, für die unterschiedlichen Stimmungen des Trauernden hält die Internetseite Gebete, Bibelverse, meditative Texte, Lyrik und Musik bereit. Die Seite lädt dazu ein, auch widersprüchliche Gefühle zu akzeptieren und auszusprechen. Seit 2009 findet am Ewigkeitssonntag ein Andachts-Chat für Trauernde statt. Eine Woche vorher können Trauernde die Namen verstorbener Freunde und Angehöriger in ein Trauerbuch eintragen. In der Andacht werden die Namen der Verstorbenen eingeblendet – danach sind alle eingeladen im Chat gemeinsam das Vaterunser zu beten und so Gedenken und Fürbitte zu verbinden.

Eine Erfahrung aus den Online-Andachten der letzten beiden Jahre: viele der ins Trauerbuch eingetragenen Verstorben waren mehr als ein Jahr tot, einige sogar Jahrzehnte. In Kirchengemeinden werden in der Regel nur die Namen der im letzten Jahr gestorbenen Gemeindeglieder verlesen – im Internet besteht für Trauernde daher die Möglichkeit, auch an die Angehörigen und Freunde zu gedenken, die schon länger verstorben sind. Trauerzeiten können online individueller gestaltet werden.

Jeder kann sich für die Online-Andacht seine Umgebung selbst gestalten. Einige haben eine Kerze neben den PC gestellt, bei anderen läuft Musik im Hintergrund. Egal wo sie sitzen, im Chat sind sie beisammen und bilden eine Gemeinschaft auf Zeit. Die Andacht beginnt mit einer kurzen Eingangsliturgie, dann werden die Namen und Lebensdaten der Verstorbenen eingeblendet. Währenddessen schweigen die Chatteilnehmer, man kann die Ruhe am leeren Bildschirm spüren. Als der Name eines Kindes eingeblendet wird, tippt die Mutter als Gebet: „Du bist nun bei Gott mein Kind.“ Dann schweigen die Chatteilnehmer wieder. Am Ende beten sie ein Vaterunser und verabschieden sich voneinander. Man merkt an den Dankesworten, diese Andacht hat ihnen gut getan.

Ralf Peter Reimann

19. November 2011