Seebestattungen vor Borkum
Unsere Trauerkultur ist im Wandel und auch die Bestattungsformen ändern sich. Viele Menschen haben keine Beziehung mehr zum traditionellen Friedhof, der über viele Generationen Menschen ein Trostort gewesen ist, an dem sie sich ihren verstorbenen Lieben nahe fühlten. Hinzu kommt die zunehmende Mobilität der Menschen. Die Hinterbliebenen leben nicht mehr in den gleichen Orten, in denen die Verstorbenen gelebt haben. So entsteht ein großes Bedürfnis nach Bestattungsmöglichkeiten, die keine Grabpflege benötigen, die aber zugleich mit dem Leben der Verstorbenen in Beziehung stehen. Während Menschen, die den Wald liebten, sich heute oft in einem Friedwald beisetzen lassen, ist für Menschen mit einer großen Verbundenheit zum Meer eine Seebestattung attraktiv. Das gilt allemal für Menschen, die Zeit ihres Lebens am Meer gelebt haben und vielleicht sogar beruflich zur See gefahren sind oder eng mit der Seefahrt verbunden waren.
Auf der Nordseeinsel Borkum kommen Seebestattungen regelmäßig vor und werden meistens auch von einem Pastor bzw. einer Pastorin begleitet. Entweder findet vorher eine öffentliche Trauerfeier in der Friedhofskapelle statt und anschließend fährt der engere Familienkreis hinaus zum Hafen, oder die Trauerfeier findet im kleinen Kreis direkt an Bord statt.
Im Burkanahafen auf der Borkumer Reede liegt die Motoryacht bereits am Anleger und erwartet die Passagiere. Es haben ca. 15 Personen Platz an Bord des liebevoll restaurierten Schiffs mit einem einladend gestalteten Salon, in dem die Gäste Platz nehmen. Die Urne steht bereits für alle gut sichtbar an einem herausgehobenen Platz. Die Seefahrt dauert insgesamt ca. ein bis eineinhalb Stunden. Der Kapitän gibt zunächst ein paar Informationen zum Verlauf der Fahrt und dem Bestattungsort, nennt genaue Koordinaten, evtl. von dem oder der Verstorbenen so gewünscht, weil der Partner oder die Partnerin dort auch schon bestattet wurde. Dann heißt es Leinen los, und die Fahrt beginnt.
Sofern noch keine Trauerfeier stattgefunden hat, ist nun Gelegenheit, diese zu halten, in freier oder klassischer Form, mit oder ohne Lesungen, mit oder ohne Gesang. Die Einzelheiten wurden mit den Angehörigen vorher abgesprochen. Ansonsten führe ich die Zeit ein erweitertes Seelsorgegepräch mit den Angehörigen; ich frage Kinder, Enkel, Nichten, Neffen, Geschwister nach ihren Erlebnissen mit dem oder der Verstorbenen; dabei wird manche Geschichte erzählt und manchmal auch herzhaft gelacht.
Spätestens wenn die navigierte Position erreicht ist, ziehe ich meinen Talar über, sofern ich ihn nicht schon trage, weil bereits eine Trauerfeier unter Deck stattfand. Dann nimmt der Kapitän die Urne aus ihrer Halterung und lädt die Angehörigen ein, ihm an Deck zu folgen. Die Urne findet nun einen neuen und sicheren Platz auf der Reling. Die Schiffsbewegungen sind manchmal heftig, so dass die Urne stabil stehen muss, um nicht vorzeitig „über Bord zu gehen“. Nun wird die Trauerfeier fortgesetzt mit Lesung, Gebet, Vaterunser und Segen.
Danach ist der Kapitän dran. Er erklärt noch einmal die Einzelheiten, u. a. dass sich die Urne innerhalb von 48 Stunden im Wasser auflösen wird, trägt ein paar Gedanken vor, liest manchmal ein Gedicht. Dann wird die Urne mit Kranz oder Blumengebinde zu Wasser gelassen. Langsam saugt sie sich voll Wasser, bis sie endlich untergeht. Nun schlägt der Kapitän mit der Schiffsglocke viermal zwei Glasen, insgesamt acht Schläge. Dann geht er ans Ruder und fährt mit der Yacht einen Kreis um die Stelle der Beisetzung und lässt das Schiffssignal ertönen. Die Angehörigen haben vorher ihre Blumen ins Wasser geworfen und stehen andächtig, berührt und schweigend an der Reling, bis sich das Schiff langsam vom Ort entfernt.
Die Rückfahrt ist der üblichen Trauerkaffeetafel an Land vergleichbar. Manchmal gibt es Kaffee und Kuchen. Vor allem ist die Stimmung nun gelöster und der Alltag zieht auch in die Gespräche wieder ein. Nach 30 Minuten haben wir den Hafen erreicht und die Trauergesellschaft verabschiedet sich, z. T. dankbar, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Manch eine*r hatte während der Fahrt mit Übelkeit zu kämpfen.
Die Sehnsucht nach einem Trauerort bleibt auch bei einer Seebestattung bestehen. Einige Trauernde gehen regelmäßig ans Meer und sehen in Richtung der Stelle, wo die Bestattung stattgefunden hat. „Am Meer bin ich ihm oder ihr ganz nah“, so sagen mir Trauernde. Aber es gibt auch ein Seebestattetendenkmal auf Borkum, ein großer Stein in Form einer Welle direkt an der Friedhofskapelle, auf dem Messingtäfelchen mit den Daten der Verstorbenen angebracht sind und an dem Blumen abgelegt werden können.
Immer wieder erlebe ich allerdings, dass Hinterbliebene, besonders der Partner oder die Partnerin, unter der Anonymität der Seebestattung leiden. Sie haben diese Form oft stillschweigend akzeptiert, weil der Verstorbene sie zu Lebzeiten für sich gewünscht hatte.
Die Zahl der Seebestattungen ist in den letzten Jahren rückläufig. Viele wählen stattdessen die Bestattung in einer von der Friedhofsverwaltung gepflegten Urnengemeinschaftsgrabanlage, die es auch auf Borkum gibt und wo der Ort der Beisetzung durch eine Platte oder ein Grabmal kenntlich gemacht worden ist. So muss sich niemand um die Pflege kümmern. Aber es gibt ein Grab, das besucht werden kann.
Jörg Schulze, Pastor – Ev.-luth. Christus-Kirchengemeinde Borkum