Zwei Blätter erzählen aus ihrem Leben

Noch erleben wir letzte wunderschöne Spätsommertage, aber die Wälder haben sich schon verfärbt. Noch ein letztes Aufleuchten des Sommers, aber morgens liegt schon Nebel über den Wiesen, und die Abende beginnen kühl zu werden.
Der Sommer geht seinem Ende zu. Noch einmal zeigt sich der Wald in seiner ganzen Pracht und Schönheit. Und doch liegt schon etwas Wehmut darüber: Abschied – Sterben.

Der Sturm fährt zwischen die Äste Welke Blätter lösen sich vom Baum. Der Wind wirbelt sie durch die Luft. Sanft fallen sie zur Erde, bedecken den Boden und geben so dem Boden und den in ihm verborgenen Samen Schutz vor Kälte und Frost , bis sie selbst wieder zu Erde werden, Nährboden für andere, die nach ihnen kommen.

Zwei Blätter hängen noch an einem kahlen Ast. Hören wir auf sie. Die Blätter erzählen aus ihrem Leben:
Es ist nicht mehr wie früher. Wir waren glatt, leuchtend grün und voller Leben. Jetzt bin ich ausgetrocknet, kraftlos und alt.

Ja, es ist kalt in mir. Ich habe Angst. Heute Nacht sind wieder so viele von uns davon geweht. Wir sind schon die einzigen auf unserem Ast. Es ist niemand mehr da, mit dem wir gemeinsam rauschen und die Erinnerungen an den Sommer teilen können. Niemand mehr, der uns lange Zeit vertraut war. Niemand mehr, der uns ohne viele Worte versteht, weil er dasselbe erlebt hat, wie wir.

Einsam sind wir und vollen Angst.

Man weiß nicht, wen es trifft. Als es noch warm war, und die Sonne noch Hitze gab, kam manchmal ein Sturm oder ein Wolkenbruch, und viele von uns wurden schon damals weggerissen. Und sie waren noch so jung.  Man weiß nicht, wen es trifft. Unsicher schauten sie einander an.

Vielleicht war es gut so, dass sie so früh fallen konnten. Vielleicht ist ihnen vieles erspart geblieben – Krankheiten oder Verletzungen, Schmerzen und Abschiede.
Aber warum? Warum gerade der? Oder der? ist es Zufall, blindes Schicksal? Oder hat einer unsere Leben in der Hand? Liegt ein verborgener Sinn hinter dem Ganzen?
Nach langem Schweigen sagte das eine Blatt zum anderen:
Jetzt scheint die Sonne nur noch selten. Und wenn sie am Himmel steht, wärmt sie nicht mehr. Sie schenkt keine  Energie mehr.
Ich möchte aber neue Kräfte haben. Es fällt mir unendlich schwer: Ich kann nicht ja sagen  dazu, dass ich alt bin. Wer jung ist, schön und voller Energie, der gilt etwas, den schaut man gern an, der wird bewundert und geliebt.
Ich bin alt, welk, verbraucht.

Manchmal macht es mich richtig wütend, wenn ich die leuchtend grünen Nadeln der Tanne sehe oder wenn ich an die jungen grünen Triebe im Frühjahr denke.
Ich bin hässlich, gelb-braun, verschrumpelt und faltig.

Wenn doch einer da wäre, der sagt:“Ich mag dich, so, wie du bist! Du bist mir wichtig.“ Dann wäre ich glücklich.
Wenn einer sagt: „Ich will dich bergen in meiner Hand, “ dann könnte ich mich fallen lassen voller Vertrauen und Hoffnung. Dann weiß ich: Ich werde auch in meinem Fallen noch gehalten und geliebt.

Es ist schwer, Abschied zu nehmen, los zu lassen, alles aus der Hand zu geben, was mir wichtig war und ist. Ich möchte festhalten, was ich liebe. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das ist: Den Wind nicht mehr spüren, die Sonne nicht mehr sehen, das Gezwitscher der Vögel nicht mehr hören. Einfach nicht mehr da sein, nichts mehr ändern und neu beginnen können, vergeblich gelebt zu haben, vergessen zu werden.

Und ich komme nicht los von dem, was mich bedrückt, was nicht in Ordnung war oder verkehrt gelaufen ist in meinem Leben, wo ich anderen Unrecht getan und sie verletzt habe.  Es hat Streit gegeben, harte Worte, Vorwürfe und Anschuldigungen. Ich habe nur mich gesehen, wollte um jeden Preis Recht behalten, mich durchsetzen. Mir war es egal, ob andere auf der Strecke blieben. Jetzt tut es mir leid. Ich habe so vieles zerstört. Ich kann es nicht ungeschehen machen, aber ich möchte mein Unrecht eingestehen und um Verzeihung bitten. Ich hoffe auf Vergebung und möchte mich mit den anderen versöhnen.
Ich kann nicht gehen, bevor ich das nicht in Ordnung gebracht habe.

Jedes hing seinen Gedanken nach. Dann fragte das eine zögernd:
Ist es wahr, dass an unserer Stelle andere kommen, wenn wir fort sind, und dann wieder andere und immer weiter?
Ja, schau dir die Knospen der Kirsche dort drüben an.  Noch sehen sie aus, als wären sie totes Holz. Aber das Leben ist schon in ihnen verborgen. Fest umschlossen und gut geschützt, damit  Kälte und Frost den  neuen Trieben nicht schaden. Sie brauchen die Zeit der Winterruhe und des Abwartens. Zeit, um Kräfte zu sammeln und sich auf neues Wachsen und Grünen vorzubereiten.
Und wenn es wieder warm wird, werden sie aufbrechen und neue Blätter und Blüten treiben. –  Neue Schöpfung, neues Leben aus dem Tod.

Man kann es gar nicht ausdenken. Es geht über unser Begreifen.
Und dennoch: Es macht mich auch unendlich traurig, weil ich dann nicht mehr sein werde, das neue Aufblühen nicht mehr miterleben kann. Mir wird das Herz schwer, wenn ich an den Abschied denke.Ich soll alles loslassen, was bisher mein Leben ausgemacht hat, mich von allem  trennen, was zu mir gehörte.

Nach langem Schweigen wiederholte  das eine Blatt noch einmal:
Jetzt scheint die Sonne nur noch selten und wärmt  nicht mehr. Der Regen erfrischt mich nicht mehr, sondern ist unangenehm und tut mir weh. Ich friere und spüre, wie meine Kraft immer mehr nachlässt. Ich bin alt und verbraucht. Ich spüre die Kälte viel stärker als früher und fühle mich viel einsamer als im Sommer. Da war blühendes Leben um mich, und ich mittendrin. Jetzt wird alles immer weniger. und das macht mich traurig.

Sie schwiegen lange.
Wenn doch einer da wäre, der sagt: Ich mag dich so, wie du bist. Du bist schön mit deinen Falten und Runzeln. Sie erzählen von deinem Leben, deinem Leid und deinen Freuden, sie zeugen von deinen Erfahrungen und allem, was dich geprägt hat. Deine Erfahrungen und Deiner Erinnerungen sind ein Schatz, der dich reich macht.
Wenn doch einer da wäre, der sagt: Ich hab dich lieb – so wie du bist. Meine Liebe gilt dir vom ersten Tag deines Lebens an und wird niemals aufhören. Egal, was geschieht. Sie hängt nicht ab von deiner Schönheit oder dem, was du leistest. Weil ich dich liebe, will ich dich bergen in meiner Hand. Bei mir findest du Zuflucht und Geborgenheit.

Wenn ich darauf vertrauen könnte, dass einer zu mir steht, egal, was geschieht, dann könnte ich auch selbst „ja“ sagen zu meinem Alter zu meiner Gebrechlichkeit und Schwäche, „ja“  sagen zu meinem Leben und Sterben. Dann könnte ich mich fallen lassen, voller Vertrauen und Hoffnung, weil ich weiß: Es ist einer da, der mich auffängt hält und trägt.

Es fällt so schwer, Abschied zu nehmen, loszulassen, alles aus der Hand zu geben.
Sie schwiegen lange. Tautropfen glänzen auf ihnen wie Tränen. Es tut gut weinen zu können, Der Schmerz muss sich äußern, Tränen müssen fließen, damit sich etwas löst in uns und wir nicht hart oder verbittert werden. Die Tränen helfen beim Loslassen. Sie erleichtern  den Abschied.

Ich weine, weil ich das Leben liebe und weil es so weh tut, das alles zurückzulassen, die anderen, die mit mir zusammen aufgewachsen sind und mit denen ich das Leben geteilt habe: Freunde, denen ich vertraut bin und mit denen ich so manchen Sturm gemeinsam überstanden habe. Andere mit denen ich fröhlich im Wind rauschen konnte, die mich vor eisigen Winden schützten oder denen ich Schutz bieten konnte. Die Bäume nicht mehr sehen, die Stimmen der Vögel nicht mehr hören, die Geräusche und Gerüche des Waldes nicht mehr wahrnehmen, nichts mehr spüren von Sonne, Regen und Wind, alles loslassen für immer – unwiederbringlich.

Noch einmal möchte ich zurückschauen auf mein Leben, Bilanz ziehen, noch einmal mich erinnern, alles Glück meines Lebens und alles Schöne noch einmal durchleben, mich auch den traurigen Momenten stellen und das Schwere noch einmal anschauen und mich dabei Schritt für Schritt von allem lösen, endgültig Abschied nehmen.
Beide hingen lange ihren Gedanken nach
Dann sagte das erst Blatt still vor sich hin: Warum müssen wir weg? Warum kann nicht immer Sommer sein? Warum gibt es den Anfang und das Ende unseres Lebens, Jugend und Alter, Werden und Vergehen?

Ewig  jung und alle Zukunft noch vor uns – das wäre schön!
Nein, entgegnete das andere Blatt. Das sehe ich ganz anders. Spürst Du denn nicht, wie wichtig jeder einzelne Tag in deinem Leben ist, weil du die Zeit nicht zurückdrehen kannst. Jeder Tag ist unwiederbringlich. Nur so hat jeder Tag sein Gewicht und seinen Wert.

Ich habe nicht immer so gelebt, als ob jeder Tag der letzte in meinem Leben sein könnte. Jetzt tut es mir leid, wie viel Zeit ich mit sinnlosen Dingen vertan habe, wie viel ungelebtes Leben.

Wie oft habe ich mein Leben verträumt, anstatt meine Träume zu leben. Wann habe ich mir Zeit genommen für die anderen, die auf meine Liebe gehofft haben und meine Zeit mit mir teilen wollten, wann war ich da, wenn einer von mir Trost und Hilfe brauchte oder ein gutes Wort, ein aufmunterndes Lächeln? Wann habe ich gelebt, wirklich gelebt, mir Zeit für mich genommen und alles, was mir wirklich wichtig war? Wann habe ich meiner Seele Raum gelassen?

Schau nicht immer nur auf das, was nicht gelungen ist, wandte das andere Blatt ein. Erinnere dich auch an all die Dinge, die dein Leben reich gemacht haben, das Glück und die Liebe im Frühling,  denke an Sonnenfreuden und Gewitterdonner, heil überstandene Stürme und laue Sommerabende, helle in das sanfte Licht des Mondes getauchte Nächte und leuchtende Sonnenaufgänge.  Alles gehört zu Dir, hat Dein Leben reich gemacht, ist Teil von dir geworden.

Ich kann meinem Leben nicht mehr Zeit geben, aber ich kann meine Zeit mit mehr Leben füllen.
Und bedenke doch: Alles gehört zu dir: Das Wachsen, das Reifen und der Abschied. Es ist dein ganz eigenes Leben, unverwechselbar deins. Sag ja dazu: zu aller Freude des Sommers und zu alles Wehmut des Herbstes. Sag ja auch zu deinem Welken und Absterben.  Das alles gehört zu dir. Nimm es an!

Doch was geschieht mit uns, wenn wir abfallen?
Wir sinken hinunter, aber was ist da unten? Der eine sagt dies, der andere das. Aber niemand weiß es. Zu Erde werden wir, Erde, aus der neues Leben entsteht. Wir sind eingebunden in diesen großen Zusammenhang: Werden und Vergehen und neu Werden.

Ob man noch etwas fühlt, wenn man fällt?  Ob man noch etwas weiß, wenn man da unten ist?
Wer kann das  sagen? Es ist noch keiner von denen, die hinunter sind zurückgekommen, um davon zu erzählen.
Aber ich hoffe, dass ich nicht ganz verloren bin, dass ich mich nicht einfach auflöse, als hätte es mich nie gegeben, dass ich Spuren hinterlasse von meinem Leben.
Ich hoffe, dass ich nicht ganz verloren bin, ich hoffe, dass einer da ist, der sagt: Komm. Ich habe dich lieb.  Du darfst geborgen sein bei mir.  Weil ich dich liebe, kann dein Tod dich nicht endgültig vernichten. Meine Liebe ist stärker als alle vernichtende Macht des Todes und schenkt dir neues Leben. Bei mir bist du geborgen wie in einer zärtlichen Hand, gut aufgehoben und liebevoll gehalten.
Sterben das ist Hindurchgehen durch den Tod wie durch ein Tor zu einem neuen Sein. Bei mir findest du Frieden, Du bleibst mein geliebtes Kind.
Sterben heißt auch: frei werden von alle Schwäche und Gebrechlichkeit, frei von den Lasten des Lebens, von Schmerzen und Krankheit, Sterben heißt, frei werden von allem, was mich jetzt ängstet und quält.
Ja, ich hoffe auch, dass Sterben heißt: neu werden, weil einer da ist, der mich will, weil seine Liebe mich neu leben lässt. Diese Liebe ist dann wie ein Licht, das mich umhüllt, das in die Finsternis des Sterbens hineinleuchtet und mir den Weg weist.
Ich glaube: Wir haben einen langen  Weg vor uns.

Wieder schwiegen sie lange. Jedes hängt seinen Gedanken nach. Erinnerungen werden wach, Erinnerungen an den Sommer, an die Sonne, an Licht, Wärme und Freude,  an erste Frühlingssonnenstrahlen und laue Sommerabende  ebenso wie Erinnerungen an heftige Gewitterstürme und eisigen Regen, an Abschied  und Kummer, an Trauer und Schmerz und neues Glück. Und immer wieder  an Begegnungen, die das Leben reich gemacht haben.
Die Hoffnung wächst.

Aber da ist auch die Angst, diese Angst vor dem Tod. So manches Mal hat sie mich in meinem Leben vor Leichtsinn bewahrt hat,  aber jetzt macht sie  mir den Abschied so schwer. Ich habe Angst vor dem, was mit mir geschieht und was ich nicht mehr bestimmen und selbst gestalten kann.
Ich fühle mich so hilflos, ausgeliefert, ohnmächtig. Ich spüre, dass andere Kräfte stärker sind als ich, und ich kann nichts dagegen  tun.

Lass mir noch Zeit, nur ein wenig noch. Ich bin noch nicht bereit. Ich hänge noch zu sehr am Leben.
Werde ich es  lernen, loszulassen und Ja zu sagen, in mein Sterben einzuwilligen?
Schritte in das Dunkel zu gehen?
Im leichten Wind zittert das Blatt. Es fühlt sich nicht mehr sicher an seiner Stelle.

Vorsichtig berührt ein Blatt das andere. Es tut gut, die Nähe des anderen zu spüren, nicht allein zu sein in dieser Abschiedsstunde. Es tut gut, Verständnis zu  erfahren und sich mit dem anderen verbunden zu fühlen. Und doch spüren beide schmerzlich die Grenze. Sie können einander nicht  ewig begleiten, können nicht mitgehen auf die andere Seite. Der andere scheint schon so fern, wie durch eine unsichtbare Wand getrennt. Traurig für beide.
Die Stunden verrinnen. Ein nasser Wind streicht kalt und feindselig durch die Baumwipfel. Nebel  steigt auf. Der Sommer ist  unendlich fern.

Das letzte Blatt löst sich von dem Zweig.
Ach, jetzt. sagt das Blatt. Ich.

Da bricht ihm die Stimme. Ein letzter Windstoß.
Es wird von seinem Platz gelöst und schwebt, wirbelt durch die Luft und fällt hinunter auf die Erde.

Nun ist es Winter.

von Heinke Geiter