Pierre Stutz, Verwundet bin ich und aufgehoben. Für eine Spiritualität der Unvollkommenheit

3. Auflage, München (Kösel-Verlag) 2003

Vielen spirituellen und therapeutischen Ratschlägen liegt ein letztendlich überforderndes Perfektionsideal zugrunde: noch ganzheitlicher, noch erleuchteter, noch versöhnter … sollen wir werden. Pierre Stutz sieht das anders: Wer menschlich bleibt, bleibt unvollkommen, macht Fehler, kennt Zerrissenheit und Verwundungen. Das ehrliche und persönliche Buch wendet sich an Suchende gerade in Umbruchs- und Krisenzeiten. Es befreit, zu sich selbst mit allen Macken und Kanten zu stehen. Es ermutigt mit vielen konkreten Impulsen authentisch zu bleiben – gerade angesichts dunkler und schwieriger Erfahrungen. Diese neue Spiritualität der Unvollkommenheit erschließt das Buch über große Gestalten der Mystik aus Vergangenheit und Gegenwart. Persönlich gehaltene Meditationstexte des Autors inspirieren Leserinnen und Leser, ihre eigenen Lebenserfahrungen auszusprechen. Die Reise zur eigenen Unvollkommenheit stößt auf ungeahnte Wunder der Geborgenheit und des wahren inneren Friedens.

Rezension

Mit diesem ansprechend gestalteten und mit Lesenbändchen versehenen Buch teilt Pierre Stutz, ehemaliger katholischer Priester und langjähriger spiritueller Begleiter im offenen Kloster Abbaye de Fontaina-André in der Schweiz, mit den Lesrinnen und Lesern seine persönlichen Erfahrungen im Umgang mit krisenhaften Erfahrungen des Ausgebranntseins und der Beschränktheit der eigenen Kräfte, die ihn zunächst in die Depression geführt haben. Mit Hilfe von Zeiten der Stille und der Meditation von Texten aus der christlichen Mystik hat er gelernt, die eigenen Grenzen anzunehmen und sie ins Leben zu integrieren, statt sie mit aller Kraft bekämpfen, verdrängen und überwinden zu wollen.

Für Menschen, die nach dem Tod eines Menschen mit ihrer Trauer umgehen müssen, ist dieses Buch nicht die erste Wahl. Der Verlust, mit dem sich Pierre Stutz hier beschäftigt, ist nicht der Verlust eines geliebten Menschen (ein solches Erlebnis kommt nur ganz kurz in Kapitel 9 „Vom intensiven Leben im Sterben“ zur Sprache), sondern der Verlust des geliebten Bildes von der eigenen Person als starker und im Grunde jeder Anforderung genügenden Persönlichkeit.

Wer aber, vielleicht ausgelöst von der Krise des erlebten Verlustes, mit ähnlichen Erfahrungen des Verzweifelns an der eigenen Unfähigkeit zu kämpfen hat, wird bei Stutz viele wertvolle Gedanken finden, die schon vielen, die Stutz begleiten durfte, zur Annahme der eigenen Endlichkeit helfen und anleiten konnten.

In zehn Kapiteln (Von der Würde des Begrenztseins – Vom Ganzwerden im Loslassen – Von der Ausgeglichenheit im Auf und Ab – Von der Fülle in der Leere – Von der Nähe in der Distanz – Vom Glanz in der Finsternis – Vom Mitsein im Rückzug – Von der Lebenskraft im Leiden – Vom intensiven Leben im Sterben – Von den Wendungen zur Mitte) kreisen die Gedanken immer um andere Perspektiven auf das gleiche Zentrum: die Annahme der eigenen Begrenztheit und den Umgang damit.

Jedes Kapitel ist in drei Teile gegliedert – eine persönliche Erzählung von Pierre Stutz über die Schwierigkeiten, die er erlebte und zu überwinden lernte, hilfreiche (kurze) Texte aus der Tradition der christlichen Mystik, die von ihm jeweils ausgelegt werden, sowie kurze, eindrückliche Meditationen, die Stutz während dreißigtägiger Schweigeexerzitien in der Zeit seiner Krise verfasst hat. Dabei zeichnet sich Stutz durch einfache, lebendige Sprache und große Achtsamkeit bei der Wahrnehmung von Spannungen und Ambivalenzen aus.

Das Buch schließt mit einem Brief, in dem Stutz sich zu seiner Homosexualität bekennt, ohne sich auf diesen Aspekt beschränken lassen zu wollen, und aus diesem Bekenntnis heraus den Schritt des Abschieds aus dem Priesteramt vollzieht. Dieser Schritt ist für ihn die notwendige Konsequenz aus dem im Buch vorgestellten Ziel, die eigenen Grenzen und Schwächen anzunehmen und in das Leben zu integrieren.

Eike Kohler

Pierre Stutz, Verwundet bin ich und aufgehoben. Für eine Spiritualität der Unvollkommenheit. 3. Auflage, München (Kösel-Verlag) 2003
ISBN: 3-466-36623-2