Gedenkfeier am 23. November 2008 im Bestattungshaus
Weil wir der Erinnerung Raum und Zeit geben wollen, sind wir heute zusammen gekommen. Wir erinnern uns der Menschen, die uns nahe waren und die wir verloren haben.
Vielleicht haben Sie in Ihrer Trauer manchmal den Satz, sicher wohlgemeinten Satz, zu hören bekommen: es ist nun deine Aufgabe, loszulassen. Nur dann wird es dir gelingen, dich dem Leben neu zuzuwenden. Du musst ihn, du musst sie loslassen.
Hat Sie das befremdet? Ich könnte das verstehen. Sie wollen den Toten, die Tote doch gar nicht loslassen. Sie wollen sie behalten – in der Erinnerung behalten.
Und dass die Erinnerung nötig ist, wusste schon Erich Kästner, als er schrieb:
Die Erinn’rung ist eine mysteriöse
Macht und bildet die Menschen um.
Wer das, was schön war, vergisst, wird böse,
wer das, was schlimm war, vergisst, wird dumm.
Weder böse noch dumm wollen wir werden.
Deswegen erinnern wir uns.
Erinnerungen leben vom Erzählen.
Auch unser eigenes Leben bekommen wir nur dann zu fassen, ja, es bekommt Sinn, wenn wir es erzählen. Mit den Toten ist es ebenso. Ihr Leben kommt uns nahe, bleibt uns nahe, indem wir es erzählen – uns selbst erzählen, es anderen erzählen dürfen.
Fotos gehören zur Erinnerung. Fotos sind in einem einzigen Bild festgehaltene Geschichten. Sie werden erst dann lebendig, wenn wir die dazugehörige Geschichte erzählen.
Alle erlebte Erfahrung muss in Erzählungen überführt werden, denn was nicht in eine Erzählung gefasst ist, geht dem Gedächtnis verloren.
„Du bist deine nicht zu Ende erzählte Geschichte“ (J. Galli).
(Die Notwendigkeit des Erzählens illustriert humorvoll eine jüdische Geschichte: Ein Rabbi sieht Moische am Sabbat – an dem ja nicht gearbeitet werden darf – auf dem Golfplatz genüsslich Golf spielen. Auch das ist Arbeit. Empört wendet sich der Rabbi an den Engel: „Tu doch was!“ – Nichts geschieht. – Moische schlägt seelenruhig weiter und der Ball geht direkt ins Loch. Der nächste Schlag – wieder… alle 18 Löcher mit nur je einem Schlag, das hat’s noch nie gegeben! Darauf schimpft der Rabbi wieder und sagt zum Engel: „Was soll das? Greif doch endlich ein!“ Der Engel antwortet: Reg dich nicht auf! Wem soll er`s denn erzählen?“)
Das Ereignis ist nicht das, was passiert. Das Ereignis ist das, was erzählt werden kann.
Oft liegen Vergessen und Erinnern nahe beieinander. Zugespitzt könnte man sagen: Vergessen bedarf des Erinnerns und Erinnern bedarf des Vergessens.
Wie in der Geschichte, in der ein alter Mann jeden Abend sich der Mühe, Leid und Bitternis des Tages erinnert und all dies auf einen Bogen Papier aufschreibt. Nachdem er es aufgeschrieben hat, fängt er an zu weinen, die Tränen fallen auf das Papier und löschen das Geschriebene auf dem Papier aus, so dass das Papier wieder leer ist und der Mann am nächsten Abend wieder seine Mühe, sein Leid und seine Bitternis des Tages aufschreiben kann.
Es gibt aber auch die andere Geschichte von dem Grafen aus der Toskana, der sehr alt wurde, weil er ein Lebenskünstler par excellence war. Von ihm wird erzählt, er habe nie sein Haus verlassen, ohne sich zuvor eine Hand voll Bohnen einzustecken. Er tat dies, um die schönen Momente des Tages bewusst wahrzunehmen und sie besser zählen zu können. Die meisten Bohnen waren dunkel und recht klein, aber zwei oder drei waren weiß und groß. – Für jede positive Kleinigkeit, die er tagsüber erlebte – einen fröhlichen Plausch auf der Straße, das Lachen einer Frau, ein köstliches Mahl, eine feine Zigarre, einen schattigen Platz in der Mittagshitze, ein Glas guten Weins… für alles, was seine Sinne erfreute, ließ er eine Bohne von der rechten in die linke Jackentasche wandern. Manchmal waren es gleich zwei oder drei..
Manchmal gab es Zeiten, wo sich vieles um ihn herum veränderte, neue Anforderungen wurden an ihn gestellt, die ihm manchmal Angst machten, wo er nicht wusste, ob er es schaffen würde, mit all den Veränderungen umzugehen.
Aber er spürte die vielen kleinen Bohnen in der linken Tasche, die ihm Mut machten. Und so fing er an, mit Veränderungen umzugehen, und gemeinsam mit anderen nach neuen Wegen und praktikablen Lösungen zu suchen. Und für solche dicke Brocken, die es zu bewältigen gibt, steckte er sich eine große weiße Bohne von der rechten in die linke Tasche.
Abends saß er zu Hause und zählte die Bohnen aus der linken Tasche. Er zelebrierte diese Minuten. – So führte er sich vor Augen, wie viel Schönes ihm an diesem Tag widerfahren war und freute sich. Und sogar an einem Abend, an dem er bloß eine Bohne zählte, war der Tag gelungen – es hatte sich zu leben gelohnt.
Das wünschen wir uns: Lebenskunst, die die Toten nicht vergessen hat! Die Kraft der Erinnerung wünschen wir uns, die alle Zeitformen umfasst: die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft.
Der erste Augenschein ist nicht das Ganze.
„Augenschein“ heißt ein Gedicht von Ernst Ginsberg:
Zur Nacht hat ein Sturm alle Bäume entlaubt
Sieh sie an, die knöchernen Besen.
Ein Narr, wer bei diesem Anblick glaubt
Es wäre je Sommer gewesen.
Und ein größerer Narr, wer träumt und sinnt
es könnt‘ je wieder Sommer werden.
Und grad diese gläubige Narrheit, Kind,
ist die sicherste Wahrheit auf Erden.
Vielleicht kann diese gläubige Narrheit unsere Lebenskunst werden, die sicherste Wahrheit auf Erden.
In der Erinnerung bleibt, was Sie an Liebe erfahren haben und wie Ihre Liebe aufgenommen wurde. Das bleibt.
Was bleibt, ist die Liebe. Da ist ein Land der Lebenden und ein Land der Toten, und die Brücke zwischen ihnen ist die Liebe – das einzige Bleibende, der einzige Sinn. (Th.Wilder)
von Alexander Kaestner